Eibensang

Baldur

Guten Tag! Ich bin das Licht, die Wahrheit und – leider nicht mehr am Leben (ähem). Aber ich kann nix dafür! Ich wäre perfekt gewesen! Schön war ich, so schön, dass alle mich liebten! Ganz besonders meine Mama Frigg. Wie aber Mütter so sind, war sie sehr besorgt um ihren Sohnemann. Also nahm sie jeder Pflanze einen Schwur ab, dass mir niemand was zuleide täte. Und alle Pflanzen, Gräser, Bäume, Hölzer, Farne, Blumen – alle, alle schworen meiner Mama, der Königin von Asgard, heilige Eide, dass sie nie im Leben dem Balderle was antun täten! Leider hat Mama die Mistel vergessen – vielleicht, weil die immer so weit oben auf Bäumen wächst, die Mistel. Vielleicht aber auch, weil sie den Kelten so heilig ist, dass Mama dachte, das Mistelchen ist sowieso brav. Wie Mama darauf kam, weiß ich nicht. Wo Mama doch sonst immer alles weiß. Da hat sie aber ganz schön Mist gebaut. Die Mistel ist nämlich überhaupt nicht brav gewesen. Genausowenig wie die Kelten. Obwohl die mir nie was getan haben. Die hatten nämlich ihre eigenen Götter – und ihre eigenen Schwierigkeiten.

Meine Kumpels und ich machten jedenfalls seit Mamas Versicherungsaktion immer ein tolles Spiel. Meine Kumpels – die Götter von Asgard – spielten schießen, und ich spielte Zielscheibe. Kein Pfeil, kein Geschoss konnte mir was anhaben! Das war richtig geil. Kinder, ich fühlte mich echt wie Superman!

Eines Tages ging was schief. Da hat nämlich Loki, der sowieso immer alle furchtbar nervt, dem Hödur einen Mistelpfeil in die Hand gedrückt und gesagt: „Komm, Hödur, jetzt probier’s doch auch mal! Schieß auf Baldur, wie die andern! Komm, du schaffst das schon, Alter. Trau dich! Wir glauben an dich!“

Der Hödur hat sich erst nicht getraut. Der ist nämlich ganz ein Blinder. Also sehen tut der wirklich nichts. Legt das blinde Huhn, tschulljung, der blinde Gott also an und schießt auf mich – mit einem Mistelpfeil! Warum der jetzt ausgerechnet getroffen hat, das wissen die Götter auch nicht. Weil – wenn ein Blinder schießt, dann möcht‘ man doch meinen, dass der in 111 von 112 Fällen danebentrifft. Dummerweise war’s wohl gerade der 112. Schuss. Jedenfalls hat mich der Mistelpfeil sofort durchbohrt. Mitten durchs Herz! Mir wurde schwarz vor Augen, und ab da kann ich mich an nix mehr erinnern.

Game over

Ich fand mich alsbald wieder bei Hel. Da hat’s mir überhaupt nicht gefallen. Alles dunkel, grau und öde. Wo ich doch ein Lichtgott bin! Und nur lauter Tote um mich rum. Ein langweiliges Volk, kann ich euch sagen! Überhaupt kein Leben in der Bude! Zum Kotzen. Nach einer endlos langen Zeit hat dann mein Papi, der Odin, über Umwege (mein Papi ist ein Meister im Umwege machen), herausgekriegt, wo ich bin, und bei Hel angeklopft. Weil mein Papi auch ein Meister im Überreden ist, hat er die Hel solange genervt, bis die gesagt hat:
„Na, von mir aus. Wenn alle Geschöpfe in allen Welten um den armen Baldur weinen, dann soll er in Dreinornirsnamen wieder nach Breidablik* zurückziehen…“

(* So heißt nämlich meine Wohnung, die eine der besten und strahlendsten Aussichten in allen Welten hat).

Ich habe gewartet und gewartet, und in allen Welten hub wirklich ein derartiges kollektives Geflenne an, dass der tranige Haufen in Helheim mir dagegen schon wieder wie die reinste Love Parade vorkam. Wenn das mal gutgeht, dachte ich. Ging natürlich nicht. Ratet mal, wer als Einziger nicht geweint hat? Richtig: Loki! Alle tobten, aber es war nichts zu machen. Hel ließ mich nicht raus. „Erst wieder nach Ragnarök!“ hat sie mich angegiftet, die alte Schachtel.

Weltbrand

Ich wartete also das Götterschicksal ab. Das kam denn auch irgendwann. Die Kumpels hatten Loki gejagt, gefangen und in Fesseln gelegt, aber seitdem scheint in Asgard nicht mehr viel geklappt zu haben. Kein Wunder: ohne mich! Und Loki war natürlich auch stinkesauer, daß er ständig Gift schlucken musste, und nur noch Erdbeben machen durfte und keine tollen Erfindungen mehr, die den Göttern sonst immer aus der Patsche geholfen hatten.

Jedenfalls hat’s mächtig gestürmt und gelodert, die Sterne fielen vom Himmel, der ganze Weltenbaum hat gebrannt. Sogar in Helheim wurde es richtig heiß. Und nacheinander sind – neben Scharen verstorbener Menschen – auch alle Kumpels, Freunde und Verwandten bei mir in Helheim angekommen. Sogar Papa!

„Ja, was ist denn bei euch los,“ hab ich ihn gefragt.
„Leck mich am Arsch,“ hat Papa geflucht, „der Fenrir hat mich gefressen.“
Ich war perplex: „Ja, hast du dich denn nicht gewehrt, Papa?“ Aber Vater war überhaupt nicht zu Scherzen aufgelegt. „Glaubst du vielleicht, ich hab ihm noch die andere Wange hingehalten, du blöder Bengel? Gekämpft hab ich, wie nur ein Kriegsgott kämpfen kann – aber das Mistvieh war stärker!“
Ich konnte es kaum glauben: „Aber dann müsstest du doch in Valhall sein, wenn du im Kampf gefallen bist, Papa!“
Da rastete mein alter Herr aber völlig aus: „Ja glaubst du denn, ich bin mein eigener Einherjer oder was? Ich mach mich ja zum Gespött vor allen Menschenkriegern – von den Valkyries ganz zu schweigen!“

Den dicken Thor hab ich mich gar nicht ansprechen trauen. Der kam vielleicht mit einer Saulaune! Und hinter ihm gleich Jörmundgand, die Midgardschlange: Die beiden hatten sich gegenseitig massakriert. Da hab ich mir aber schon gedacht: Oha. Wenn jetzt die Midgardschlange weg ist, wird das Erdenrund nicht mehr lange halten. So war’s dann auch. Mein alter Freund Freyr kam angewankt, völlig deprimiert. Ich wollte ihn trösten, aber er winkte ab: „Wenn ich nur dieses verdammte Schwert nicht verliehen hätte…!“
Waffenlos hatte er natürlich wenig Chancen gehabt gegen all die Riesen.
„Wer hat denn eigentlich angefangen,“ wollte ich wissen.
„Na, Surtur war’s. Der Feuerherr hat ganz Muspellheim auf die übrigen acht Welten losgelassen, bis die ganze Eibe brannte!“ Wer ihm den Weg gewiesen habe?
„Rat mal, Freund Baldur. Rat mal.“
Müde senkte Freyr sein gehörntes Haupt. Mir fiel es wie Schuppen aus den Haaren: „Lo-?“ –
„Jepp!“ brummte Freyr. „Loki kam als Anführer gefahren, auf Naglfar, einem Schiff, das aus den Finger- und Fußnägeln von Toten zusammengepappt war.“
Freyr spuckte Richtung Hel aus, die er der feindlichen Logistik verdächtigte (nicht ganz zu unrecht, denn schließlich ist die Totenherrin Hel ja Lokis Tochter).

Finstere Zeiten

Nach einer Weile kamen die Frauen, die Asinnen und Vaninnen alle. Sie begrüßten mich herzlich, aber weinend und voll Trauer. „Wie steht’s denn jetzt, oben?“ wollte ich wissen.
„Nicht besonders,“ entgegneten sie. „In Midgard läuten jetzt eiserne Glocken, und immer weniger Menschen gedenken unser. Sie rufen einen totgefolterten Wüstenpropheten an, und kehren sich von uns ab. Es wird lange dauern.“
Na, wenigstens sitzen wir alle in einem Boot, dachte ich.
„Es wird schon wieder werden,“ versetzte ich mit meinem angeborenen Optimismus.
„Sie roden mich und legen Straßen über mich, sie trampeln alles platt!“ jammerte Gjerda. Ich erschrak bei ihrem Anblick. Freyrs Gattin war eine der schönsten Riesinnen überhaupt gewesen. Jetzt war ihr Kleid voll Asche und Schutt, ihre Haut tief zerfurcht, wund und geschunden, und in ihrem Haar hatten sich zerbeulte kurze Röhren verfangen, auf denen grelle Runen glänzten.
„Was besagen diese scheußlichen Schlangenlinien?“ fragte ich Dichtergott Bragi, der sich gut auf Zeichen versteht. Bragi zuckte mit den Schultern.
„Ich kann da nur ‚Coca Cola Schutzmarke‘ entziffern. Aber frag mich nicht, was das heißen soll.“

„Schutz für die Feinde der Götter, nehme ich an!“ brummte Heimdall missmutig.
„Ich stinke!“ schluchzte Gjerda.
„Was soll ich da sagen,“ fiel Sif ein, „schreckliche Maschinen roden und dreschen mein Haar, und sie backen so schlechtes Brot daraus, dass sie es mit Gift haltbar machen müssen.“
Ihr Mann begann zu toben: „Ich haue ihnen die Gewitter um die Ohren, dass ihnen hören und sehen vergeht! Ich lasse ihnen die Lawinen auf die Bumsbirnen klatschen, bis sie winseln,“ brüllte der Donnergott.
„Deine starken Eichen werden der neuen Zeit ebenso weichen müssen wie meine schönen Eiben,“ versetzte Wintergott Ullr grimmig. Er stützte Nerthus, die Erdmutter. Sie war fahl im Gesicht. Sie sah krank aus, als läge sie im Sterben.
„Du bist ja ganz schmutzig und schorfig,“ entfuhr es mir. „Was hast du?“ Nerthus versuchte zwischen zwei Hustenanfällen zu lächeln (offenbar in Atemnot, aber sie hielt sich tapfer):
„Ich? Ich glaube, ich habe Homo Sapiens!“
Eir beugte sich über sie. Wir alle hielten den Atem an (Eir ist die beste Ärztin von Asgard).
„Ja, du hast eindeutig Homo Sapiens,“ sagte sie ernst zur Mutter Erde. Wir alle sahen Eir an. Was sollten wir jetzt unternehmen?
„Gar nichts,“ sagte Eir milde. „Das geht vorbei.“

„Kannst du mir nichts gegen die Schmerzen geben?“ flüsterte Nerthus halberstickt.
„Ich glaub, ich muss mal langsam wieder nach oben,“ mischte sich Odin ein.
„Bist du verrückt,“ fauchte Frigg, „da oben haben sie dich entthront. Da bist du nur noch ein Dämon!“
Aber mein Vater ließ sich nicht aufhalten: „Wer Sturm ruft, soll mich ernten!“ rief er, und schwang schon wieder kampflüstern seinen Speer. Naja, der alte Herr ernährt sich sein Lebtag nur von Met, was soll man da sagen?
„Was gedenkt Ihr zu tun, hohe Frowe?“ fragte ich Freyja mit gebührender Höflichkeit. Doch die Vánadis antwortete nicht. Sie ballte die Fäuste in ohnmächtigem Zorn (alle anderen nahmen schon Abstand: Mit der Sonne selbst legt sich keiner an, schon gar nicht, wenn sie den Charakter einer Katze hat). Dann begann sie mit spitzen Fingernägeln auf dem Rücken ihres goldenen Ebers zu trommeln. Es klang nach verdammt hartem Beat. Ich fing einen vielsagenden Blick von Saga auf:
„Die Herrin wartet. Sie hat sich noch nicht gefangen. Aber wenn sie sich erst wieder in der Gewalt hat, ich wette, dann lässt sie die Sau raus!“

Sonnenaufgang

Ich könnte noch lange so weitererzählen. Aber weswegen? Am Schluss ist doch alles wieder gut geworden. Ich habe Hödur verziehen, und Arm in Arm sind wir nach oben gegangen. Gjerda war schon da und legte sich in ihrer ganzen blühenden Pracht auf Nerthus. Sif schob ihre frischen goldenen Haarspitzen durch die Furchen der Äcker, und Odin blies einen sanften Wind durch die Ähren, bis Thor schon leicht eifersüchtig zu donnern begann. Der Feuerriese Surtur hatte zwar ein paar unschöne Spuren hinterlassen (die Menschen nannten es Plutonium oder so), aber wir haben alles wieder hingekriegt. Die Frühlingsgöttin streute ihre Blüten aus, Freyr segnete die Jungs mit Lust und Kraft, und seine Schwester machte die Mädels heiß. Ran zog manchmal ein paar Tanker nach unten, was ihren Mann Aegir ziemlich ärgerlich machte („Ich will kein Öl in meinen Hallen!“), und Loki überschlug sich in den verrücktesten Erfindungen, die er jetzt lieber für die Menschen als für die Götter machte.
„Du solltest die mal mit diesen Computern sehen,“ kreischte er mir vergnügt zu und wollte sich kaputtlachen. Weißt du, wie sie mich nennen inzwischen? – Murphy!“ krähte er fröhlich und vorschnell, da ich nicht antwortete.
Mir sagte der Name nichts. Aber Loki war schon wieder auf und davon. Ich ging zu meinem Vater.

„Na, Papa, wieder zufrieden?“ klopfte ich ihm auf die Schulter. „Nicht ganz, mein Junge, nicht ganz,“ grummelte er etwas grantig. „Die Deutschen haben die Swastika falsch herumgedreht und geschwärzt. Jetzt ist das alte Sonnenrad ein Todessymbol, und mir laufen scharenweise die falschen Idioten nach.“ Aber mir konnte er nichts vormachen. Der Schatten seiner Hutkrempe war nicht so lang, dass ich sein Grinsen nicht gesehen hätte. Mein Kumpel Christus (ich hatte ihn damals in Helheim kennengelernt, sie hatten ihm übel mitgespielt, besonders nach seinem Tod, aber das ist eine andere Geschichte) hätte Papas Grinsen wohl „diabolisch“ genannt. Ich stand auf. Beruhigt. Vater würde es seinen „Anhängern“ schon zeigen.
„Einherjer?“ fragte ich ihn leichthin. Odin schüttelte sein Haupt: „Nicht nötig.“
Er wies über das weite Land. „Es gibt jetzt neue Leute da draußen. Die alten Werte kommen wieder.“
Freyr hatte sich zu uns gesellt. „Sie basteln jetzt an meiner Rune rum.“ (Womit er wohl die Gentechniker meinte.)
„Da werden sie ihr blaues Wunder erleben!“ dröhnte Papa. Wir lachten.
„Und was machen wir jetzt?“
Papa wies zum Horizont. „Fragt die Chefin!“ Die Sonne ging auf. Wir sahen genau hin. Brisingamens Glanz ließ unsere Augen tränen.
„Ich mische die Völker,“ sagte Freyja sanft. „Haut und Haar, Herz und Haut, Sinn und Art – alle Formen und Farben.“ Frischer Regen fiel. Ich legte den Kopf in den Nacken.
„Ich geh mal etwas Wind machen,“ sagte Papa.

2 Reaktionen zu “Baldur”

  1. Andrea Hirschmann

    …und deswegen kommt dieses Frühjahr auch Baldurs Pflanze, der Baldrian, in meinen Garten 🙂

    Die hat mich nämlich auf Baldur hingewiesen, und auf Deine augenzwinkernde, das Schmunzeln hervorlockende Erzählung hier, die mir die Welt heute wieder schön und hoffnungsvoll gerade und ins Licht gerückt hat! Danke Baldur, danke Eibensang!

    Andrea

  2. bartleby

    Danke, deine Version hat mir grade die Motivation gegeben weiter zu lernen, den nun kann ich schmunzelnd tun…;-)

    Seite wird gemerkt, bin sehr beeindruckt wie du mit einigen Themen umgehst und für dich Lösungswege gefunden hast.

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