Duke Meyer

zur zeit

zungentanz

taten

unterwegs

aestheticks

schweinepriester

vita

salon

linx

kontakt






rabenrat

O.

Die Nacht war kalt. Wenigstens schien die Innenstadt ausgestorben: kaum eine Seele unterwegs in den engen Gassen, und so entging ich einer dieser lästigen Personenkontrollen, ohne mich unsichtbar machen zu müssen. Der Wind streichelte mir das Gesicht mit dem Charme veitstanzender Rasierklingen. Ich drückte mir den hochaufragenden Hut noch etwas tiefer; die Luft war feucht, im Schein der Laternen sah man trübes Geniesel. Ich ging rasch. Kein Mond am Himmel. Von etwas weiter weg krähte ein schwarzer Vogel, aber man konnte ihn nicht sehen. Ich gab den Ruf leise zurück. Dann trat ich ein.

Die Tür knarzte wie gewohnt, schob beim Aufstemmen mal wieder den gammeligen Flurteppich halb beiseite und ließ sich dann wegen der eingeklemmten Teppichwellen nicht mehr weiter bewegen, weshalb ich mich durch einen schmalen Spalt schlängeln mußte. Drinnen roch es nach Zimt und Zeder sowie immer noch nach dem, was der heftige Duftlampeneinsatz wohl unterdrücken sollte, aber nie ganz schaffte. Beim Durchzwängen durch den engen Flur stieß ich den Staubsauger halb um und wäre beinahe über einige verstreute Schuhe gefallen, weil ich den Kater nicht treten wollte, der mich erst fauchend und dann schnurrend begrüßte, bevor er wieder davonstob – das närrische Vieh. Die Tür zum Wohnraum ging wie von selbst auf.

"Hallo, Lennia." Die Angesprochene sah von ihrer Kartenlegerei auf und musterte mich nur beiläufig, als käme ich jeden Tag mindestens dreimal vorbei (dabei war ich seit Ewigkeiten nicht mehr dagewesen). Mich umsehend, trat ich näher. Der niedrige Raum mit den kargen Möbeln sah angegammelt aus wie immer; auf dem Kohleofen, den sie auch als Herd verwendete, standen Töpfe, von denen einer dampfte. Lennia kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Sie war älter geworden, doch mich beeindruckte ihr Gesicht noch immer: das dunkle Haar, die ledrig-bronzene Haut, die strenge, leicht gebogene Nase, der feinsinnige Mund mit den etwas dünnen Lippen. Und ihre sonore, selbstbewußte Stimme.

"Sag was du willst, und dann verschwinde. Ich hab zu tun. ...Tabak?" Sie hielt mir ein Monstrum von einer selbstgedrehten Tüte hin, die an eine plumpe Zigarre erinnerte, da von Hand in braunes Maispapier gewickelt, wie es bei ihrem Volk Sitte war. Ich schüttelte den Kopf. Sie zog an der Riesenzigarette und paffte, mich nicht aus dem scharfäugigen Blick ihrer tiefdunklen Augen lassend, den Qualm aus dem Mundwinkel zur Seite.
"Ich habe Munin verloren," sagte ich.
"Warum knotest du ihn dir nicht in den Bart?" brummte sie vergnügt. "Hier ist er nicht vorbeigeflogen."
"Lennia, es ist ernst. Ich brauche ihn dringend." entgegnete ich.
"Was kann ich für deinen Raben? Und nenn mich nicht immer Lennia."
"Du erinnerst mich an sie."
"Ich wüßte nicht weswegen. Hab ich vielleicht deinen cholerischen Donnersohn geboren? – Und wenn du eine Mamma brauchst, dann geh doch zu deiner eigenen."
Sie guckte streng, aber ich nahm erleichtert wahr, wie es in ihren Augen gutmütig aufblitzte: wenn auch nur einen Moment lang. Wir hätten uns jetzt wieder wie gewohnt streiten können – nur neckend, natürlich: daß ich sie für eine indianische Göttin hielt (nur nie erfuhr, welche), weil sie mit kühler Koketterie darauf beharrte, eine "ganz gewöhnliche Menschenfrau" zu sein, obwohl selbst für diesen unmöglichen Fall die Eigenschaft "gewöhnlich" eine bodenlose Untertreibung geblieben wäre: Die Kleinwüchsige war die mächtigste Schamanin, die ich außerhalb meiner eigenen Kreise kannte. Da wir es beide eilig hatten, überging ich das Geplänkel: "Ich brauche eine Verwandlung."

"Warum machst du das nicht selber? Hast du die Kunst vergessen?"
"Ich sagte doch, ich habe Munin verloren."
"Und wenn du den andern schickst, seinen Bruder, den ... den Dingsda?"
"Hugin kann ihn nicht finden. Sonst wäre ich nicht hier. Außerdem: wenn ich den auch noch verlöre..." Ich breitete etwas hilflos die Arme aus.
Sie antwortete mit einem Fluch in ihrer Sprache. "Verwandlung. Bei der Pfeife meines Vaters! Kann deine zweifellos hochtalentierte Bettgenossin 'Katie' das nicht erledigen? Die hat´s dir doch schonmal beigebracht." Sie grinste mir ziemlich unverschämt, aber auch etwas genervt ins Gesicht.
"Die Große Katze ist anderweitig beschäftigt."
Außerdem mußte ich daran denken, daß mich Freyja wohl erstmal schallend auslachen würde, wenn ich ihr gestände, daß ich ohne meinen Gedächtnis-Raben Munin auch keinerlei Siedezauber-Kunst mehr mächtig war. Aber das wollte ich meiner indianischen Verbündeten jetzt nicht auf die Nase binden: nicht unter diesen Umständen. Nicht in dieser kalten deutschen Winternacht. nicht an diesem Ort, in diesem kaum begonnenen Jahrhundert.
"Ich weiß, daß du die Zutaten parat hast. Und auch ich hab es eilig. Ich will dich nicht länger aufhalten als nötig. Wirklich!" Der bittende Unterton in meiner Stimme war durchaus ehrlich.

Mit einem Seufzer stand Lennia auf, wobei sie ihre Karten zusammenschob und sich dann mit beiden Händen auf den Tisch stützte. Obwohl sie stand, blieb sie winzig: Nichteinmal halb so groß wie ich, obwohl ich mich nicht größer zeigte als ein hochaufgeschossener Mensch.

"Watog´la, du bist eine Nervensäge." Sie nannte mich bei diesem Namen, obwohl sie selbst keine Lakota war. Aber so hatte ich mich ihr einst vorgestellt, vor (nur nach Menschengedenken) längerer Zeit, als ich an einem ganz anderen Ort, und damals auch in heimlicher Not, das erste Mal in ihren Kreis gewankt war. Jener Kreis damals war ein Tipi gewesen auf der anderen Seite Nehallénias, wie manche der Meinen die Erde manchmal nennen. Und Große Kleine Frau – Lennia, wie ich sie gern herzend heiße, weil sie mich in vielem an die Mutter meines mächtigsten Sohnes erinnert – hatte mich in ihre Arme genommen, mir ihren heiligen Tabak angeboten, und ... aber das ist jetzt eine ganz andere Geschichte, die ich schon deswegen nicht wiedergeben kann, weil ich ja schließlich mein Gedächtnis verloren habe. Oder jedenfalls sehr wichtige Teile davon: unterwegs in Gestalt meines schönen schwarzen Raben Munin, den ich heute früh ausgesandt hatte wie immer – und der am Abend nicht mehr wiedergekommen war. Ich konnte mir denken, warum – doch vermied es geflissentlich, mir selbst die Antwort zu geben: Warum sich dem Grauen unnötig aussetzen, solang noch etwas dagegen zu unternehmen war. Ich hoffte indes inbrünstig, die Dinge würden nicht schlimmer kommen. Es waren gefährliche Zeiten. Der wichtigste Quell meiner Orakelkünste, das einbalsamierte Haupt Mimirs, hatte mich auch schon seit Tagen angeschwiegen: Die Kräuter, die den Toten zur Weissagung befähigten, waren mir ausgegangen. Ich mußte unbedingt neue besorgen, bevor er mir womöglich noch verfaulte. Zur Zeit war wirklich fast überall der Wurm drin... Aber zuerst mußte ich meinen Raben wiederhaben: Munin – mehr als eines alten Raters Gedächtnisses Stütze! Meine allwissende Frau half mir natürlich auch nicht: Die sprach grad mal wieder nicht mehr mit mir, wegen einiger jüngerer Eskapaden mit Menschentöchtern – aber das war´s jetzt nicht, woran ich mich erinnern wollte... deswegen suchte ich meinen wichtigsten schwarzen Raben ganz bestimmt nicht. Es gab wirklich Wichtigeres auf (und zwischen) den Welten. Fast schien mir schon, als könnte ich Fenrir, den heillosen Mondverschlinger, knurren hören... Seiner Fesselung konnte man jedenfalls nicht auf ewig trauen.

"Sisa!" (So hieß die Große Kleine natürlich auch nicht, aber ich hoffte, daß "Blume" ihr schmeicheln würde.) "Du weißt, daß Súrturs Finger auf der Erde sind – seit längerem. Die Sterblichen können mit dieser Macht nicht umgehen. Sie wissen nichts mehr von den andern Welten. Keine Ahnung haben sie, aus welchem Reich der Schwarze Feuerdiener kommt. Sie spielen mit seinen Kräften, als könnten ausgerechnet sie die beherrschen... Und in der momentanen Lage kommt es vielleicht zu einer..."

Lennia unterbrach mich: "Erzähl du mir nichts von der Lage. Spirite Grande! Während du deine Raben um den Erdball jagst und verlierst..." – Spott verkniff sich die Gute weißmirselber selten – "...und mit deinen verlausten Vögeln auch sogleich Gedanke und Gedächtnis in der nächstbesten Kanalisation hopsgehen – ...oder hast du dir dein allerwertestes Vogelvieh vielleicht vergrault mit deinem ständigen Gevögel argloser Menschenmädchen...?" Sie liebte Gewitzel in Fremdsprachen, von denen sie durchaus viele beherrschte. Und war nicht mehr zu bremsen: "Während du dich auf deine verschrobene Art vergnügst und wichtig machst, du alter Kauz, und wahrscheinlich noch über deine eigenen Orakelrunen stolperst dabei, in der Hoffnung, ein paar deiner Anhänger zu retten, während dir hier auf Mutter Erde seit geraumer Zeit meistens die falschen hinterherlaufen, lese ich ganz einfach Zeitung!" Sie griff ein paar bedruckte Blätter, die auf dem Stuhl neben ihr lagen, und schmiß sie auf den Tisch. Ich machte mir nicht die Mühe, die reichlich fetten Schlagzeilen zu entziffern – ich wußte selber, was abging. (Außerdem vertrete ich eine schriftlose Kultur. Reicht doch, wenn man die Runen beherrscht, oder? Mächt´geren Zauber gibt es kaum...)

Bevor ich jedoch zu einer adäquaten Entgegnung anheben konnte, nickte die Indianerin. "Also gut. Ich helfe dir." Sie sprach es nicht aus, sondern ließ mich in ihrem Blick lesen. "Wie lang brauchst du für die Medizin?" wollte ich wissen. Lennia deutete auf den Herd: "Hab sie schon fertig." Wir maßen uns mit den Augen. Du hast gewußt, daß ich komme, sagten meine. Ich braue sie für noch ganz andere als für dich, sagten ihre. Und in ihrem Blick sangen die alten und die neuen Stämme von Ecuador, ganze Ahnenreihen von Menschengenerationen, und die lange Geschichte ihres Volkes spielte sich zeitrafferartig in den Schlitzen ihrer glutdunklen Augen ab, mit ihrem Stolz, ihren Künsten, ihrer Lebensart, dem tragischen Untergang ihrer Kulturen und all den Massakern, dem Leid und Elend der Tage, da die bleichhäutigen Söhne der Erde das Beste entrissen und ihre besten Kinder niedermachten, wo sie sie trafen – und für einen Moment lang schimmerte der Bitterschein eines Vorwurfs in ihrem Blick, doch ich wußte, daß er nicht den Meinigen galt: Meine Schützlinge waren genauso im Zeichen des Kreuzes gemartert worden wie die ihren, nur war es bei ihren nicht so lang her – und für den jüngsten bestialischen Mißbrauch meines Namens machte sie mich sowenig verantwortlich wie ich den geschundenen Gustl von Nazareth für die Kreuzzüge des Westens, seien diese nun alt oder neu.

Ich gab ihren Blick zurück und ließ in meinem lesen: Wie meine Feinde die Swastika geraubt, geschändet, das alte Sonnenrad verdreht und geschwärzt hatten, bis nach seiner millionenfachen symbolischen Umkehrung ein nachhaltiges Zeichen von Tod und Verderben daraus wurde, das umso stärker im kalten Feuer unermeßlicher Bosheit glühte, als die Leiber der schlimmer und schändlicher als Vieh Hingeschlachteten zu Massen und Abermassen verkohlten und verheizt wurden und zu beißendem Gestank verrauchten – einem Gestank, der noch an den Erben und Kindeskindern der Mörder haften blieb, sich aschekalt über und in die Seelengründe legte von ganzen Generationen, und mehr als ein Volk vergiftete... Und obgleich wir, die Rater, das Rad hart zurückgedreht hatten nach Nornengesetz, bis es die ganze dreckige Todesmaschinerie selbst mit Stumpf und Stiel zerstampfte, zu bröckelnder Schlacke und bröselndem Staub zermahlte im kaum abstumpfenden Widerschein ihrer namenlosen Verbrechen – so war, am Schluß jenes unheilvollsten Waffenganges, auf der andern Erdseite doch eine künstliche Sonne zuviel aufgegangen unter der Sonne, hatte ihrerseits eine neuartige Form plötzlichen und massenhaften Verderbens hinterlassen – mit dem "Plutonium" (welch treffender Name) hatte die Menschheit Súrtur, dem gräßlichsten aller Feuerdämonen, den gefährlichsten Dreck aus seinen Fingernägeln mittenmang auf die Erdenwelt gekratzt: Hiroshima hieß sein Bahnhof, Nagasaki sein Hallo. Doch hätte man die kaum mehr verhinderbare Entwicklung dieser "Waffe" gar dem hybriden Schnauzbart von Deutschland überlassen sollen? Mit seinem verräterischen Ungeist hatten wir weißmirselber zuviel zu tun und haben es bis heute. Arbeit wird es kosten, auch seine jämmerlichen neuen Jünger (von denen sich zuviele für die meinen halten) in den Staub zurück zu treten, bis sie das scheißebraune Gift aus ihren Primatenschädeln kotzen – und dann vielleicht vor Göttern und Menschen etwas Demut und Anstand lernen...

Mein Blick hatte sich verloren, und eine Handbewegung Lennias brachte mich in gegenwärtige Wirklichkeit Midgards zurück. "Hier lang." Sie schlug einen Vorhang beiseite und hieß mich in den dahinterliegenden Raum treten. Ich legte Hut und Mantel ab, mußte mich dennoch unter der Schwelle bücken, und setzte mich dann auf den Rand des bunten Teppichs, in den schöne, mir nicht allzuvertraute Symbole und Tiergestalten hineingewoben waren. In der Mitte des Zimmers prangte beherrschend ein großer, mondsichelförmiger Altar aus Erde und getrocknetem Lehm, blumengeschmückt, und mit einer blauen und einer roten dünnen Rinne auf seinem Rist, deren Enden sich an seiner mittleren Erhöhung trafen: der spirituelle und der materielle Weg...

"Ich kann dir jetzt nicht erst ein Schwitzhaus machen..." begann Lennia.
"Ich brauche keines," beschwichtigte ich. "Ich bin doch kein Mensch..." (und unter den Ratern kein Anfänger, setzte ich stumm hinzu.) "Beginnen wir gleich die Zeremonie." schlug ich vor.
Sie wuselte etwas unwirsch mit der Hand über dem Tal des Altars und verschwand wieder durch den Vorhang: Ich sollte das Feuer entzünden, während sie die Medizin holte. Viel fertiges Brennholz lag nicht da, aber für mich würde es reichen. Ich schlug eine Rune hinein, und als Lennia mit einem großen Topf wiederkam, stand klein, aber lodernd die heilige Flamme.

"Du wirst es aus dem Topf schlucken müssen – kein sauberes Geschirr mehr im Haus. Andere waren vor dir da..." bemerkte sie. "Hast du schon gesungen?"
– "Ich singe die ganze Zeit, wenn ich den Mund aufmache," wehrte ich ab. Bin schon fertig mit allen erdenklichen Vorbereitungen und soweit, hieß das.
Sie lächelte honigsüß: "Es muß ja auch Vorteile haben, ein Gott zu sein."
Ich gab der alten Spötterin den schönsten Aufschlag meines einzigen Auges: "Mein Gaumen wird dafür noch schlimmer leiden müssen als der deiner Menschenschüler."
Denn ich wußte um den scheußlichen Geschmack ihrer Gebräue. Aber schließlich war das hier kein Met-Gelage.
"Bist du überhaupt nüchtern?" fragte sie noch überflüssigerweise. "Meine Güte, für was hältst du mich, weise Frau? Für einen möchtegern-germanischen Trunkenbold?" Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Sie blitzte mich an mit makellosen Zahnreihen, auf die ich hätte neidisch werden können. "Dein donnernder Sohnemann soll schließlich Ochsen im Ganzen verknuspern, kam mir zu Ohren. Nicht gerade die Speerspitze des Vegetarismus..." lästerte sie freundlich. Laß gut sein, winkte ich ab: "Ich trank nur etwas Wein." (Sie wußte, daß ich nichts esse.)

"Tabak muß sein!" Mit diesen Worten reichte sie mir eine neue jungfräuliche Maisblatt-Zigarre.
"Danke, daß du sie mir vorgedreht hast. Und welchem 'Großen Geist' soll ich jetzt bitteschön danken...? grinste ich sie an.
Sie lächelte: "Wenn der große Aufsichtsratsvorsitzende von Asgard keine Macht über sich duldet, ist er auch nicht viel besser als seine kreuzvernagelte Konkurrenz!" Ich machte eine unwirsche Handbewegung ob des – wie ich fand, etwas plump geratenen – provozierenden Scherzes (denn davon abgesehen, daß Asgard seiner Königin gehört und nicht mir, wenn ich auch mit der verheiratet bin, so wird doch meine Rolle in der Firma von den wenigen Menschen, die überhaupt noch – oder wieder – davon wissen, allzugern überschätzt. Aber das wußte sie doch alles längst!)

Ich schnitt also eine Kenaz-Rune ans dickere Ende des Tabakröllchens, das sogleich zu qualmen begann, und nahm einen tiefen Zug (das Zeug, das ihren heiligen Bet-Tabak darstellte, schmeckte immerhin besser als das, was ich gleich zu mir nehmen würde).
"Ich danke Dir, Große Kleine Frau des Alten Volkes," hub ich an (während ich das Mundstück der Kippe Richtung Altarfeuer hielt, daß der Geist der Flamme am Genuß teilhaben möge, und meine freie Hand unter die angerauchte Glut hielt, daß heilige Asche nicht etwa unbeachtet abfiele – man weiß schließlich, was sich gehört), "...und ich achte Urda, des Ursprungs, Verdandi, der Werdenden, und Skuld, welche das Ende bemißt, und ich, Herr über Götter und Menschen, beuge mich ihrem Gesetz, das wir Schicksal oder Die Drei Nornen nennen: dem und denen alles was ist, war und wyrd, unterworfen ist, was seit Anbeginn gilt für Götter wie für Menschen und Alben und Zwerge und Riesen, wie für alle anderen Geschöpfe in allen neun Welten und dazwischen, hier, jetzt, für immer, seit ewig, und überall. Und ich bete zu allen Geistern und Kräften, die ich selbst repräsentiere oder befehlige, zu tun was jetzt nottut, und daß mein Rabe Munin zurückkomme zu mir und ich zu ihm – mein Wille geschehe. Und so danke ich auch mir selber ich selbst und segne mich in des tobenden Sturmwindes Namen, der meine älteste Erscheinungsform ist: Ich, Odhinn Wotan Hengikjöptr Sanngetall Helblindi Draugadróttinn Gangléri Runatyr..."
Und ich nahm (meine übrigen knapp zweihundert Namen vorsichtshalber ignorierend – schließlich fehlte mir mein schwarzgefiederter "Hauptspeicher", deshalb war ich ja hier) einen weiteren Zug von dem heiligen Tabak und legte das angerauchte Stück, das nicht mehr lange glimmen würde (Maisblatt brennt schlecht), an den Rand des Erdenaltars.

Große Kleine Frau, jetzt unaussprechlich groß und schön in ihrer wie durch Wunder festlich wirkenden Erscheinung, reichte mir mit ihren schmalen kräftigen (und von manchen indianischen Riten stark vernarbten) Armen den vollen Topf: "Trink!"
Ich nahm das Emaillegefäß an den Henkeln und bedauerte sogleich, ein sehendes Auge zu haben: Die Brühe sah nicht viel besser aus als sie erfahrungsgemäß schmecken würde – ein undefinierbares Geschwappe in einer Dünnschiß nicht nur ähnlichen Farbe. Jaja, die weisen Frauen und ihr Siedezauber – bei euch nicht besser als bei uns ...mußte ich wohl etwas zu deutlich vor mich hin gedacht haben, denn bevor der von mir angehobene Rand des Topfes alles andere als seinen Inhalt aus meinem Sehwinkel verbannte, gewahrte ich von der Schamanin noch einen tadelnden Blick. Dann dachte ich an neun lange Nächte am Weltenbaum, die auch kein Honigweinschlabbern gewesen waren und versuchte zu ignorieren, was mir da an hochmagischer Gülle über meinen Göttergaumen durch wölfisch knurrende Kehle in den protestierenden Magen floß.

Lennia sang ihre Gesänge, und in meinem Ohr verwandelten sie sich sogleich in fliegende, fallende, tanzende Runen, bildeten einen Kreis von Feuer bis Feuer, das ganze Werden, Vergehen und Wiederwerden der Welt, und eine Wassertrommel schlug hohl und schnell den gleichmäßigen Takt des warmen Mutterbodens. Das Zimmer zerplatzte, ich ertrug seine Wände nicht mehr, die steinernen, seine rechten Winkel und seine halbsynthetische Tapete. Es wurde zum Tipi, zum Stangenzelt, doch um das Zelt war ich´s selber, der brauste, stürmte und tobte, alle Wetter rufend, alle Wetter bringend, mit meinem Sohn, dem Donner, mitregnend und grollend und, während er die Blitze warf, ich selbst allen Wettern gehorchend. Lennia sang erst spanisch, dann in der Sprache ihrer Ahnen, bis ich kein Wort mehr, doch dafür jeden Ton verstand, und sie hielt den Tabak, von dem sie von Zeit zu Zeit zog, und den Kreis, und im Kreis die Energie. Ich fühlte mich, als hätte ich Thrym, den Lärmer unter den Riesen, in meinen Magen geladen und seine ganze unheile Bagage dazu... – oder als müßte dieser Magen den Vanenkrieg nochmal durchstehen, bevor wir Asen uns mit denen verbündet hatten, die uns heut so lieb und teuer sind (und den Menschen – burps – hoffentlich au-) – GAAAAAAAH! Der Geist Ayahuáska war gekommen und trat mir zur Begrüßung von unten in den Bauch – die Kraft dazu mußte er von Thor selbst geborgt haben (warte, wenn ich dich erwische, Söhnchen!) ... GAAAAAH! Wie eine Fontäne entlud sich mein Mageninhalt in hohem Bogen aus meinem Mund, verzischte im heiligen Feuer, tropfte auf Erde und festgeklopften Schlamm des heiligen Altars (und verunreinigte womöglich den nicht ganz so heiligen Teppich, aber was will man machen). GAAAAAAAH! Aller guten (und meiner heiligen) Dinge sind drei, dreimal drei ineinander verwoben, und meinem Namen Hengikjöptr ("Hängekiefer") machte ich nun sicher alle Ehre – "Ekstase" klingt weißmeinereiner wirklich schön geil, aber ich bin schon froh, daß dies hier nur ein Buch und kein Film geworden ist, denn ein alter hagerer Kerl, der sich sabbernd und kotzend den Graubart und das Gewand samt der halben Umgebung bekleckert, während sein eines Auge blind bleibt und sein verbliebenes sich grad nach auswärts dreht, ist weißdiegöttin nicht der appetitlichste Anblick. Anderseits hab ich mich nie darum bemüht, der Gott des Armanilaufstegs oder der im adretten Serviettenhäubchen servierten Mozartkugel zu sein. Bei mir selber! Hrafnaguð, Rabengott, rufen mich die Meinen, und Rabe muß ich werden: jetzt. Sofort: um mein Gedächtnis, ja mich selbst, zu finden. Wieder- und zurück zu finden. Zurück zu er-finden. Immer alles aufs Neu´. Das Leben ist ein Kreis: eine ewige, wild zuckende und stürmende, pulsierende Spirale. Das weiß auch Kollege Ayahuáska. Der nimmt mich an den Beinen, zieht kräftig an – und augenblicklich verliere ich meine Menschengestalt (das ginge auch jedem Menschen so. Warum sollte es den Sterblichen auch besser gehn als uns Göttern...). Ab ins All: zwischen die Welten. Die drehen sich um mich gerade bzw. krumm – alle neune, nur hab ich selbst am wenigsten davon. Alle Kräfte zerren und ziehen von allen Seiten. Ich weiß nicht wohin. Wo sind die Runen?

Eine Frauenstimme klingt an mein Gehör: "Rufe den Raben! Rufe den Raben! Rufe deinen Raben!"
Verdammt! Ich habe seinen Namen vergessen... Was für ein Rabe? Wer bin ich? Was bin ich? Ein Schwein fliegt vorbei, so eine Art rasende Wildsau (vielleicht aber auch ein Eber), auf seinem goldschimmernden Borstenrücken sitzt rittlings eine prachtvolle nackte Frau – danach gleich noch eins, von einem herrlich erregten (und ziemlich stattlichen, Junge Junge...) jungen Mann beritten, der ihr Bruder sein könnte – beide grüßen mich im Vorbeiflug... wie fröhlich sie winken... kenn ich die? Wo bin ich hier überhaupt? Und was bedeutet "hier"? Eine Frauenstimme schraubt sich mir zunehmend schrill in die Seele: "Rufe den Raben! Rufe den Raben!"
Die Stimme wird mir unangenehm. Was ist das eigentlich – eine Stimme? Aus was besteht eine "Stimme", und was bedeutet sie? Das will ich herausbekommen... Ich versuche sie zu begreifen, einfach zu begreifen – und bekomme plötzlich etwas Hartes zu fassen – einen Knauf? Nein – das muß ein Schnabel sein, ein Vogelschna- AU! Schmerz durchzuckt mich, zackt stechend und tief von den Fingerspitzen hoch in den ganzen Arm hinauf, durch und durch – Arm? – , vor mir ist meine Hand, blutend: rotes Blut...? Ja bin ich denn...
"Verzeihung! Um Asgardswillen...! Chef???"
Mühsam drehe ich mich um (alles fliegt, alles zieht, ich bin völlig auseinander, bestehe aus rasend fliehenden Einzelteilen) – eine Art Gesicht zeigt sich mir: ein Vogel? Oder ist das doch ein Weib? Oder beides zugleich? Ich vermeine, Schlachtengetümmel zu vernehmen... Durch das Brausen aber, in dem alles gleich wieder untergeht, ohne ganz verschwinden zu können (es kommt immer wieder: alles, alles... aahhh), fragt mich das (Frau? Vogel?) Gesicht: "...Chef??? Du hier?"
– Ich bin auseinander und fühle doch jedes Teil – und alles rotiert immer schneller – freier Fall überall gleichzeitig hinfliehender Kräfte – "Wer seid ihr?" brülle ich unbeherrscht, "was wollt ihr alle von mir?" – "Deine Dienerinnen, deine getreuen Helferinnen...," säuselt das Gesicht seltsam knarzend zurück, Federn tanzen vor meinem Blick, schwärzliche Federn, aus stinkenden Schnäbeln tropft Blut, an ihren Spitzen hängt Fleisch, warmes Fleisch, zerfetzte Haut, Menschenhaut... schwarze wildflatternde Schattengestalten tanzen um mich herum, ohne unten und oben, ohne Grenze im Raum – und ein Geschrei, ein krächzendes Geschrei... krah, krah, krah! Vielstimmig, kakophon, über dem Brausen, dem nicht endenwollenden Lärmen... was will mir das Gesicht sagen? Ich versuche mich auf dieses Gesicht zu konzentrieren, auf diesen Mund – oder sagt man Maul? Welches Maul klappert? Nennt man das Schnabel? Dieses zweiteilige lange Maul, das auf und zuklappt wie eine Schere? Aus dem die blutigen Fleischfetzen hängen und fallen im rasenden Flug? Rotzüngig weitaufgerissenes Maul, hart und schlank, und laut – meine Fresse, warum so laut – was schreist du mir in die Seele, du grausames Mistvieh, du – was zum Geier – ha – was willst du? Wie ein schneidender Strahl bohrt sich die Stimme in mich hinein:
"...Deine Valkyries sind wir! Wir sammeln den Rest der Gefallenen auf für dich, Herr...! – Freyja Vanadis, die Große Herrin, war schon da und hat sich die ihren genommen! – Erkennst du uns denn nicht... siehst du denn nicht?"

Ich sehe (und das auch nur ganz kurz in all dem Getümmel) ein stockdunkel schimmerndes Auge, kreisrund, einen Schädel so schwarz wie ein Kuharsch nach Mitternacht, um mich ein Kreisen, ein Toben, ein Schlagen und Kreischen und Weh´n...

"... Geirskögull bin ich, mit mir schliefst du und wälztest dich in Wonnen, Geliebter: unter dem Baume, dessen Wipfel sich im Nebel verhüllen, und dem man nicht ansah, aus welcher Wurzel er sproß... mich, deine Freundin: mich herztest du rittlings, als Schnee fiel bei anbrechendem Tage auf das frischgerötete Feld... wir fuhren Schlitten den Hang hinab, auf unsern gefiederten Rücken, weißt du nicht mehr? Du hübscher geiler Knochen du!"
Und sie hackte mit ihrem langen blanken Krummschnabel in mein Gefieder. Gefieder? Schwarz wird mir die Sicht, das Brausen verstärkt sich, alle Gesichter verschlingend, ein Schlund tut sich auf, ein rotierender Trichter wie der Abgrund zwischen Feuer und Eis vor Anbeginn der Welten – was lesen Sie da für einen Unsinn, Sie – Sie – wer sind Sie überhaupt? Wer gibt Ihnen das Recht, mich in diesem Zustand zu betrachten? Haben Sie nichts besseres zu tun als – AAAAAAAAAAHM AAARSCHDIERÄUBER verdammt geht das schnell runter hier – und immer weiter hinab – jetzt höre ich eine Melodie die sich immer wieder in sich selbst verschlingt – Kehrreim, kehr heim, Kehrreim, schwarz wie finster, willste Gelbes, futter Ginster... hä? Fällt er in den Graaaben, fresssssen ihn die Raaa Raaa Raaaben... krah krah krah hack krah hack hack haah krah ack ack ack ack ack... Und in der bodenlosen Schwärze verlieren sich Schlund und Schlacht und Schauer und Schorf und allesch wasch isch schonsch immer schlimmer schagen wollte sch-sch schschsch shhhh... sschhhh... chrrr... hhhhh.

Schlaf. Weiß, weiß fällt der Schnee. Flocke auf Flocke, und ein langer Tanz geht zuende. Still, ganz sacht und still. Nur das Seufzen der Felsen ist zu hören, für jemand, der Ohren hat dafür. Ich öffne die Sicht. Blau, glänzendes Blau... der Himmel. Das ist der Himmel. Keine Wolken da oben, nicht eine einzige. Der goldene Ball da – das ist die Sonne. Ich weiß es, jetzt weiß ich es wieder. Eine Gestalt beugt sich über mich, eine schöne Gestalt, mit feinen Fältchen im bronzenen Gesicht, eine anmutige Gestalt mit langen blauschwarzen Zöpfen. Sie öffnet ihren Mund, sie sagt etwas zu mir, sie ist freundlich, glaube ich... Doch ich höre nur das Seufzen der Felsen (oder bin ich das selber? Wo ist meine Seele?)... Da ist auch ein Singen im Seufzen der Felsen, ein hoher, säuselnder Singsang... beruhigend, aber fremd. Eine Schale vor meinem Mund: "Trink!" sagt die Schale. Ich will gehorchen, doch meine Muskeln gehorchen mir nicht. Federn werden über mir geschwungen in bedächtig sich wiegendem Takt, warm ist es hier, fast heiß... wo ist der Schnee geblieben?
"Er ist gestern geschmolzen. Alles ist gut." sagt das Mädchen. Mädchen? Sie trägt ein perlenbesetztes Kleid mit vielen Fransen. Sie kann nicht älter als neun Jahre sein... Eine Gruppe Frauen, ähnlich gekleidet wie die Kleine, sehe ich aus den Augenwinkeln, sie singen, scharf zeichnen sich ihre Silouhetten ab vor dem stechenden Blau des Himmels... Ich habe mich geirrt, ich habe mich in Ort und Zeit geirrt... Mein Blick sucht Halt, ich sehe die Flamme des heilenden Feuers, sehe die Scheite glimmen und brennen... Die Frauen schwenken ihre langstieligen Federn über mir, "alles wird gut, alles ist gut...", andere sitzen ums Feuer, ich sehe rechtzeitig die Gefahr – ich rufe:
"Paßt auf! Die Flamme brennt an!"

Da lacht das Mädchen hell auf, das mir die Schale hält, andere gucken verdutzt, Gesichter wenden sich mir zu, lachen dann auch, und ich muß mitlachen, lache bis mir die Tränen kommen, und davon muß ich gleich wieder weinen, und merke gar nicht, wie ich wieder zurückfalle, die Schwerkraft mich wieder entläßt, zurück zurück – wohin geht die Reise? Macht´s gut, ihr am Feuer – ich habe mich in Ort und Zeit verirrt? Nein, einen Besuch nur abgestattet bei Freunden, bei guten alten Freunden, ein kurzer nur, danke für das Wasser, schön war´s... und weg.

M.

"Hammarr í nordri, helga vé thettir ok hald vorth."
Der vertraute Klang der Silben bringt mich in die (andere, ja ja, ich weiß schon...) Wirklichkeit zurück. Was für Silben? Das war doch nur Gekrächz. Ich sitze auf Lehm, rotgebranntem Lehm, Dachziegel nennt man die, und First das, worauf ich stolz sitze. Die Nacht ist kalt und keineswegs schwarz, denn das Leben unter mir geht verschwenderisch um mit seinen Lichtern – bis zum Horizont reicht ihr nur leicht schwächelnder Glanz, läßt die meisten Sterne nicht sehen, und verliert sich erst fern am Firmament, wo es jetzt grad nichts Interessantes gibt. Ich sitze auf dem Dachfirst, ich habe Zeit, ein wenig wenigstens noch, und ich putze mein Gefieder. Ich bin schwärzer als diese elektrische Nacht. Die Wolken ziehen sich zu, lassen Regen fallen, guten kalten Regen, in gleichförmig glitzernden langen Fäden, myriardenfach und stoisch, bis es unten, wo immer Halt sein und sich Nässe stauen mag, von jedem Eck, aus jedem erreichbaren Winkel plätschert, gluckst, platscht und tropft. Pfützen auf dem Pflaster sagen wahr, was keiner merkt. Autos stöhnen sich einsam ihre Schluchten entlang, aber nicht mehr viele um diese Zeit, denn diese Stadt ist nicht so groß, daß "etwas los" wäre darin, wie die Flügellosen gern sagen. Was die immer sagen... Ich bin los. Alles ist los. Man muß nur Augen dafür haben, oder einen anderen Sinn. Ich spüre jemand kommen, den ich kenne – Wind bringt er mit, schneidend scharfen kalten Winterwind, der biegt die Regenfäden mal nach hier und mal nach dort, denn er wechselt die Richtung fast mit den Gassen, die er durchstreift. Triste Zeiten für Fußgänger, doch ich kenne den einen gut, der da kommt. Und da ich ein höfliches Geschöpf bin, begrüße ich ihn mit einem lauten Hallo-wie-geht´s-Alter, das aus meiner Kehle natürlich erklingt als ein halb so langes, aber deutliches "Krah!" Immerhin weiß er noch, wer er selber ist, der Alte, denn er gibt mir den Ruf zurück: "Krah!" ruft auch er, obschon leiser, und mit einer Stimme wie von einem Menschenmann. Er hat mich nicht sehen können, und leise muß ich in mich hineinlachen, denn er hat mich nicht erkannt. Die Frau wird ihm helfen, zu der er jetzt geht, ich höre deutlich, wie er die knarzende Tür öffnet, die sich in dem Haus befindet, auf dessen Dach ich hier verweile. Viel Zeit bleibt mir jetzt nicht mehr. Auf Reise wird er nun gehen, um mich zu finden, und ich glaube, es ist jetzt besser, ihm entgegenzueilen. Sorgen macht er sich, der Alte – ts ts ts, der hat ja keine Ahnung, aber wen wundert´s: die hab ja ich. Lang war mein Weg, und viel muß ich tragen – nicht nur für ihn, den Einäugigen. Der soll sich mal keine Sorgen groß machen. Er hat mich ja selber weggeschickt, aber natürlich hat er das alles vergessen, denn das meiste von seinem Wissen nahm ich ja mit: wohlweislich. Hahaha! Schon ein gerissener Vogel, er. Und ich natürlich auch! Haha!

Er wußte (oder ahnte es wenigstens), daß sie ihn unsanft, höchst unsanft wecken würden aus seinem vielhundertjährigen Schlaf. Daß sie ihn wie aus dem Nichts heraus beschwören würden – millionenfach, mit völlig bewußtlos ausgegrabenem Zauber: aber noch mehr, und allzu plötzlich, mit neuentwickelten Mitteln und Methoden, von denen sich unsere Altvorderen in der (gar nicht so guten!) Alten Zeit auf ihren wüstesten Trancereisen nicht hätten träumen lassen! Und er ahnte wohl, daß sie ihn schlachten würden, ihn und seine – unsere! – ganze Kultur, ausschlachten und rupfen wie ein erbärmliches Huhn, für ihre unheiligen – was krah ich: ganz und gar heillosen! – Zwecke. Ja, seine Hülle haben sie gefunden: etwas Keramik und Klamotten, auch halbverrottetes Gerät, ein Armband hie, ein Speerschaft da, ein paar von andern nacherzählte Sagen, und seine unverstandenen Zeichen... und alles befleckt und besudelt haben sie im zappendust´ren Wahn ihrer kanonenrußverstopften Vierkantherzen, die Krieg nur wollten, weil sie sonst nichts kannten, kennen wollten, und für nichts als Vernichtung Raum noch ließen in ihren kurzrasierten (und auch sonst zu kurz gekommenen) Totschlagschädeln auf den zu Maschinenzombies kaputtgedrillten Leibern, die selbst Maschine wurden: knall peng und vorwärtsmarsch in enggeschneidertem Kackbraun und Lackschwarz... Diese fischäugigen Killersklaven (Sklavenhaarschnitt! Kurz und knapp... Antennen weg vom Kopf gekappt...) und selbstgerechten Sklaventreiber von aller Ungeist Graden, mit ihrem stechsynchronen Automatenschritt und heillosem Heils-Geheule, haltlosem Haßgeplärre und massengröhlenden Gebell – die, alle andern zu versklaven, sich selbst noch "Herrenrasse" dünkten, doch tiefer noch als jämmerlichste Gossenhunde sogleich gesunken waren: die eigene Sippschaft auszurotten aus dem eigenen Volk! Ein Dutzend Jahr´ lang Volksverrat: Amputation am eigenen Herz – herausgerissen. Unverschmerzt.

Nicht auszudenken, wenn die auch noch Inhalte gefunden hätten: in dem was sie so forsch und frech ergruben und mißdeuteten aus Dolmen, Sage, Hügelgrab. Die Mythen konnten sie verbiegen, das Erbe schänden bis zum Ende... Doch das wirkliche Wissen – wahr, weise, witzig, wunderbar – gesammelt von den Unseren vor lang verblichenen Generationen – das ist allzu naßforschem Griff noch je auf Hastenichgesehn entglitten. Kein Menschenauge hat´s geschaut: rein gar nichts "steht geschrieben"! Ich schwarzer Rabe hab´s bewahrt: frei war´s, frei ist´s geblieben! Den Zugriffen entzogen! Denn ich bin fortgeflogen! Der Alte selbst ließ – hieß! – mich gehen, entfleuchen, rasch verschwinden... mich fort und fort verkrümeln, weg, verlier´n, verweh´n, verpissen – so blieb´s gewahrt, das Wissen.

Und – Flügelfederchen aufs Herz – die Schlachtfelder... ach, die... die sind mir und meinereiner längst zu ekelhaft geworden (richtig gehört: Es gibt da eine Ekelgrenze auch für uns Freunde des reichlichen Leichenschmauses, har har har - ack), seit Motorenlärm und stahlzerreißende Explosionen sie zur einer Art Nonstopdämmerung der Menschenzivilisation herunterkommen ließen – pfui Teufel (mag man sich da verbal doch glatt mal an der noch vorherrschenden Relügion bedienen, schönen Dank auch, Kollegen, aber laßt ma´ gut sein allmählich...) – nein, diese Schlachtfelder des stumpfen Grauens im Stakkatodonner reizen uns Schwarzfedern, Rabenbrüder und Valkyrieschwestern schon lange nicht mehr. Vielzuviele sind´s geworden, auch kann man nicht mal von oben mehr erkennen, wer da von wem noch was gewinnen soll (was uns ja auch egal sein könnte – aber trotzdem). Ein Dauerhorror, wohin man fliegt auf diesem vollelektrifizierten Globus. Gute Göttin!


Tief und kühl füllt die Nachtluft meine pumpenden Lungenkammern. Ahhhh. Tik-tik knacken meine Gelenkchen, gut hab ich geruht, lang strecken sich meine sehnigen harten Stelzen, weit spreizen sich die Schwingen – welche Wohltat, all die Luft! Hopp, he-hepp, her mit dir, Aufwind, greif mir unter die Arme, hahak – ahoo, heb mir die alten Flügel! Und schwupp – sanft entgleite ich dem Griff der Erdenschwere, wie es mein alter Herr jetzt grad unten etwas unsanfter durchs magische Gebräu seiner Freundin tut. Das sind natürlich neue Verbündete, wie sie die Unsrigen der Alten Zeit nicht kannten... Aber wenige sind wir geworden allenthalben, und – Händchen auf die Brust – mit dem Vermischen der Völker sind auch unsere Altvorderen schon gut gewesen, anders wären die Stämme nicht gewachsen und gediehen, das ging bei Menschen seit je nicht anders als bei Göttern – in aller Farben Kraft und Pracht.

Und hoch und weit segle ich auf den Winden, bis über die Wolken und wieder darunter hinweg. Schnell trägt mich mein Flug, in alle Welten schau ich, von allen Welten künd´ ich. Da unten lärmen die polternden Riesen, und dort graben die Zwerge... Hier tanzen die Elfen ganz winzig und fast wie nicht wahr in irisierendem Licht (doch mein scharfes Auge erspäht sie trotzdem)... Da drüben wuchert das Grün und blähen sich die prallen Früchte, und ganz ganz fern schimmert starr und schweigend das ewige Eis. Rasch überflieg ich die Toten im Staubreich der Schatten, nichts hält mich auf, nichts, ich fliege und fliege. Ich spuck ein Klümpchen gegen sehr ferne Flammen, doch es fällt nur auf Midgard, die zeitliche Welt: irgendwohin auf die Straße. Nach Asgard, nach Asgard: Wo ist die Hochburg der Rater? Noch ist elektrische Nacht, Sunna räkelt sich schlafend: nirgends spannt sich schon eine bunte Brücke aus schillerndem Licht in glitzerdem Tau früher Morgenluft. Doch ich brauche keinen Regenbogen. Ich bin ein Rabe: der wichtigste jetzt. Mein Bruder, der Gedanke, erwartet mich! Was soll er ohne mich denken, aus was will er schöpfen, wie soll er raten? Ich bin das Gedächtnis von Wind und Sturm. Alles, was Wind je verwehte, trage ich in mir: Ich bin die Kunde. Der Herr erwartet mein Kommen, ich fliege und eile. Ich höre ihn rufen. Schwere Sorge trägt er – ich trage das Wissen und werd sie ihm nehmen mit dem, was ich weiß. Aus mir kann er schöpfen wie in den ältesten Tagen, wenn ich auf ihm lande in nachtschwarzem Kleid. Krah! geht mein Ruf und Sturmwind trägt seinen, ich eil ihm entgegen, noch ist der Weg weit. Die Straße verliert sich in fliehenden Schluchten, zwischen Gebäuden, so stolz und so dumm (und so häßlich zumeist), ich überflieg das Gewusel, Gebrumm und Gesumm. Ja, hastet, ihr Menschen. Ich flieg majestätischer, trotz meiner Eile. Der alte Baum knarzt und stöhnt, die geschundene Eibe, "des Schrecklichen Pferd" – ha – ich weiß was ich weiß. Ich trag die Geschichten, die alten, die neuen, die unerhört wahren, die niemals erhörten, auch die ohne Zeugen, laut oder leis´. Heim, heim zum Alten! Du brauchst mich, ich geb´s dir, dein Wind trägt die Flügel, die Kunde ist heiß. Und über das Meer! Schaumig die Wellen, da unten wühlt Aegir, die Gischt sprüht weiß. Da hebt sich die Sonne... Ich komme, ich komme!
Kriiiiiiiaaaarh!

O.

Kriiiiiiiaaaarh!
Ich zog die vernehmlich knarrende Tür hinter mir zu. Der Regen hatte nachgelassen. Blinzelnd begrüßte ich den angebrochenen Tag. Business as usual allenthalben – was auch sonst. Lennia hatte mir ein Band geschenkt, eine Kette: auf einer Schnur aneinandergereihte Knospen jener Planze, aus denen sie ihren scheußlichen, heilsamen Trank gewinnt. In der dicksten, mittleren Perle stak eine gelbe Flaumfeder. Ich berührte sie und lachte leise in mich hinein. Ich ging in zeitüblicher Tracht, keiner beachtete mich (man muß nicht immer mit blauem Mantel und Spitzhut herumlaufen. Bin ja keine Fantasyfigur...). Munin war noch unterwegs, aber ich wußte: Er würde kommen, so schnell er kann. Noch wußte ich nicht genau, weshalb er diesmal so lang ausgeblieben war – einen menschenjahrhunderte währenden langen Göttertag bis wirklich später als sonst in die Nacht (eines Menschenjahrtausends) hinein – aber (mal davon abgesehen, daß ich es sicher bald genauestens erfahren würde), hatte ich so eine Ahnung, und ich konnte mir ein Grinsen nicht verbeißen, ein Grinsen über mich selber... Ich sah mit dem lichtempfindlichen Auge auf den Straßenverkehr (wär ja auch zu billig, wenn mich grad jetzt noch so´n Laster überrollte) und mit dem sehenderen die nicht jedermann klaren Zusammenhänge. Eine Krähe flog über mir, gab Laut. Ja, grüß mir den, den ich erwarte, krähte ich launig zurück und hinauf, zog mir den Mantel fester (es war immer noch ganz schön frisch), und machte, daß ich weiterkam. Vielleicht noch ein kurzer Stehimbiß beim Bäcker, der schon offen hatte – ein frisches Croissant mürfeln und der Menschen Reden lauschen. Bei einem guten Schluck Kaffee. Und dann ab nach Asgard! Rat soll ich raten. Denn die Lage ist ernst. Wie immer! Ich lachte.




text © duke meyer 2001
.