Duke Meyer

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blatt fuer blatt

Blätter. Welke Blätter. Bleiche Blätter. Gebleicht. Holzfrei. 80 Kilogramm Holzkopf. Weiß und blaß. Weg damit! Aber sie bleiben. Stapeln sich auf meinem Schreibtisch. Erdrücken mein Gemüt, belasten mein Herz. Neidvoll geht mein Blick aus dem Fenster. Der Hinterhof voller Lindenlaub. Welke Blätter. Bunte Blätter. Der ganze melancholische Regenbogen. Der fruchtfarbene Abschied. Orangerotgoldgelbgilb und brüchig, aber sanft. Knirsch knirsch unter der Sohle. Knirsch knirsch die Gelenke. Knirsch knirsch knirscht das Gebiß über bleichen Papiertürmen. Blätter blätter blätter. Es rauscht im Wald. Es bauscht sich bald. Buchstabenbang. Ich fühl mich alt... Es reicht! Mir reicht´s schon lang! Raus! Haut ab, Papiere! Seid gebannt!

Das Rad des Jahres dreht sich in den Schatten. Dies ist die erste Nacht seit langem, die grad so lang ist wie ihr Tag. Ich projiziere meine Gedanken in den Raum und lasse sie dort stehen: soll´n hängen in der Luft, soll´n segeln in die Gruft, soll´n tun und lassen was sie wollen wir doch mal sehn – zusammen mit der Helligkeit, den fahlfröstelnden Resten Licht mag (meinetwegen auch) alle Erinnerung vergehn. Ich will sie los sein. Ich will die Blätter loswerden. All die Blätter. Fühl mich beladen. Winde will ich rufen. Fahrt mir durch die Äste! Rüttelt mein Gebälk. Befreit mich! Hau endlich ab, du altgewordener Sommer. Bist doch schon kalt! Herbst ist. Die Sonne errötet. Der Letzte macht das Licht aus.

Noch diesen Mond lag ich im Gras mit meiner Liebsten. Ein Habicht kreiste über uns, solange wir uns liebten. Ein Leben gab ich fort dafür, ein jahrelanges Leben – das neue hielt nicht lange vor: Der Tag des Habichts, Dämmermond, das war schon letztes Jahr: gewesen! Das Jahr steigt in den Schatten. Harsch ächzen meine Äste. Saft rinnt mir aus der Rinde. Harz klebt mir auf der Kuppe. Von ferne trommeln Herzen. Die Vogelstimmen fehlen mir allmählich. Die fette alte Katze zu meinen Füßen schnurrt mich an. Ein letzter (?) vorletzter (??) Schmetterling, so hellbeige wie mein Schreibpapier, umtaumelt meine Borke. Es wird bald wieder regnen.

Einige Jahre ist es her, da hab ich eine Eidechse – dick und muskulös und schwarz –hochaufgerichtet tanzen sehen: in einem Flammen-Pentagramm. Am Ende einer Reise. Das Boot, das mich hinunterfuhr, bestand aus purem Trommeltakt. Es war dieselbe Nacht, in der ich eine Göttin traf, die mir den Kelch reichte und sprach: "-----------------------"
(– Den Loki werd´ ich tun und hier meine intimen Wegmarken preisgeben, Anm. d. Verf.!)

Themenwechsel. Trockene Gewitter knattern am Sommersaum herum und lassen Spinnenfäden zittern. So viele Fliegen wie diesjahr hatt´ ich noch nie am Küchenfenster. Ich wette, es regnet genau dann, wenn ich die Wäsche aufhänge (= alte Hausfrauen-Elementarbeschwörung). Ganz schön sensationslos, die Hexerei heute, was? Kommt mir bloß nicht blöd, KritikerInnen. Ich könnte, so ich wollte, bedeutungschwangereren Schwampf ablassen als die im Bundestag verzapfen, und das (im Unterschied zu denen) als Sperit- Spiry- Sprituali- – verdammt, als geistig hochstehend verkaufen. Ich könnte, so ich wollte, die Heilsmethoden / Ritualrezepte (alle selbstgetestet, alle leibhaftick ein- und ausprobiert) rauf und runterbeten und den Mackier, tschulljung, Magier markieren, bis dir die Kalenderblätter in der hohlen Hand verwelken. Ich könnte, so ich wollte, mit dem Gehörnten in die Schatten gehn: dem dereinst neuen Jahr zusehn, wie´s keimt in Göttin Erde Leib, im Nachtsang Ihrer Dunkelheit. Uraltes reimt sich allezeit. Soll ich vom Kreiseziehen schreiben? Dolchen? Jenen Methoden – oder solchen? Götter auflisten (vorsortiert: in "schwer" bzw. "leicht zu rufen")? A- oder/und B- wußtseinsstufen? Geht zu, Schubladen! Seid gebannt!

Ach – da laß ich sie doch lieber gleich alle fallen: Blatt für Blatt. Fenster offen, Schubladen rausgehängt. Das ganz neue Ritualgefühl. Die Winde kommen wie gerufen. Luftkraft zerrt an Lindenästen. Heul, Riese, heul! Ökologisch unkorrekt, aber ungemein erleichternd, lasse ich den gestaltlosen Heuletänzer unter und zwischen die Papiere fahren. Die heben ab vor Überraschung. Die steigen mit und ohne Eselsohren, ungefaltet. Taumeln nach oben. Schweben zu Boden. Tanzen zwischen Lindenlaub. Flattern matt abwärts wie vom Tage überraschte Fledermäuse. Auflösung des Blätterwaldes. Natürliche Abtragung der Papiertürme. Haill dir, Schwerkraft. Lies meine Gedanken, Wind. Du kannst doch lesen, oder? Heul sie den Vögeln nach! Heul sie zur Hel hinab! Heul sie ins Feuer, ganz tief ins Feuer meiner Liebsten, meiner neuen! Heul sie dem Sommer hinterdrein: in die Vergangenheit, verregnet oder glanzbeschienen! Heul sie dem Winter vorneweg, sing mit der Wölfin ein Duett, die, von den Zäunen unbemerkt, quer durch mein Traumland trottet!

Nimm meine Blätter in die Hand, Sturm. Blas meinen Sorgen ins Arschloch. Heul sie die Welteneibe hoch, bis Ratatösk sich Schnupfen holt beim Rennen. Auf mit euch, ihr DIN-A-Segler! Der Herbst ist da, und spricht zu mir: "Ausweiskontrolle!" Aber ja: Hier sind meine Papiere. Darf´s ein bißchen Meer sein? Flatterknatter, ritsch ratsch, huiiiiiii! Der Gleitflug ist erfunden.

Totale. Außen. Nicht Tag nicht Nacht, eher beides: Zwielichtzeit. Der vorletzten Rune Stunde. Orkanartige Effekte: Blätter (Laub) und Blätter (Papier) kegeln sich zur rasenden Herbstwindhose. Hochzeit der Beschriebenen mit dem Unbeschreiblichen. Tanz der Pampiere. Zoom auf Fenster im dritten Stock. Silouhette des Autors (und jetzt ganz starke Vergrößerung: Mund. Grinst so breit, daß es zieht). Schnitt.

Tschüs, Gedanken. Auf Wiedersehen, Sommerträume. Das Haar will mit und bleibt doch angewachsen. Ich will mit und bin doch urverwurzelt. Der Baum grinst. Bockt mit dem vielfachen Geweih gegen den Sturm. Laß alles los, was welk ist! Laß ziehen, was fortziehen will. Guten Flug, Kinder. Von ganz tief dröhnt die Trommel. Der Herzschlag der Herbstmutter. Leicht fröstelnd greifen meine Wurzeln tief ins Erdreich. Trinken einen Schluck: echtes Wasser. Trinke kräftig, sauge tief. Zieh´s mir hoch in die Krone. Die lichte!

Flieg, meine Seele. Flieg myriardenfach. Tanzt, meine Samen. Findet Erde. Grabt euch ein. Deckt euch zu. Dicker Schnee soll kommen. Golden glänzen die papiernen Gefühle, die der Sturm meinen Ästen entreißt. Der Sommer geht und schmückt sich mit dem rotgelben Flitter des gelungenen Festes. Ich liebte jede Frucht: biß, schleckte, küßte... Tropfte Tränen und Angenehmeres. Was für ein schöner Untergang. Der Tag war heiß, die Nacht wird lang. Doch wir kommen wieder! Errötend sinkt die Sonne.

Und jetzt endlich, die Wäsche hängt und flattert im Wind (längst kracht Thors Hammer in den Wolken), patscht´s in dicken Tropfen. Klar und deutlich. Kalt und scheußlich. Herbstlich willkommen!




text © duke meyer 1996

CD "diener der ekstase" (mai 2006)
hörprobe

diener der ekstase
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