Eibensang

Heimkehr

Kleines Traumspiel

Rollen: ein Mann, eine Frau, ein Vogelwesen

Gefangen 1

Publikumseinlass. Mitten im Weg zum Auditorium steht ein (übermannshoher) Gitterkkäfig, der schwarz verhüllt ist. Wer durch die ï¾–ffnungen im Stoff späht, sieht eine monströse dunkle Gestalt hinter den Gitterstäben. Der Saal wird dunkel. Als einzige Lichtquelle bleibt ein Spot auf dem Käfig, aus dem jetzt allmählich nervöse Laute kommen. Nach einer Weile kommt eine sehr ferne, fast wimmernde Antwort aus Richtung Bühne. Langsamer Lichtwechsel (weg vom Käfig, hin zur Bühne). Auf der Bühne kauert eine Frau mit einer Puppe in der Hand.
Die Kreatur im Käfig kreischt schrill.

Gefangen 2

Die Frau kauert am Boden, wiegt sich hospitalistisch, gibt leise Wimmerlaute von sich.
Von fern ein Vogelschrei!
Ein strahlendes Lachen zuckt über das Gesicht der Frau. Die Puppe ist ihr entglitten, unbeachtet.

Sie
Oh, Konstanze, was für ein herrlicher Morgen! Die Vögel singen, man kann den Frühling schon riechen!

Macht einen Tanzschritt, niest

Sie
Verzeih -die Sonnenstrahlen! Sie kitzeln mich in der Nase.

Vollendet den Tanzschritt, kichert

Sie
Doch ich hatte wieder diesen Traum, Konstanze – du wei゚t, in dem ich mutterseelenallein durch diesen finsteren Wald irre. Und da waren wieder diese Stimmen, die meinen Namen riefen… Sie hatten mich umkreist und wollten… Oh, Konstanze, ich hatte solche Angst! Sie kamen näher. Ich konnte ihren Atem schon spüren, überall auf meiner Haut, denn ich war… nackt?! Ich muss die Besinnung verloren haben. Als ich die Augen öffnete, lag ich in seinen Armen. Er küsste mich auf die Stirn und sah mich lange an. Und eine goldene Träne lief über seine Wange und fiel in meinen Scho゚… Als ob sie eine aufgehende Sonne wäre, durchströmte mich ihre Wärme und erfüllte den Wald mit Licht. Er aber hob mich hoch und setzte mich auf sein… nein, es war kein… ein Vogel – ja, ein gro゚er wei゚er Vogel! Er schwang sich in die Lüfte und brachte mich… heim. Oh, Konstanze, das ist ein Zeichen! Er wird kommen! Vielleicht schon heute.

Dreht sich um, geht nach hinten

Sie
Schnell, Konstanze! Gib mir mein bestes Gewand! Ich will schön sein, wenn er kommt.

Nimmt sich ihre Militärjacke, betrachtet sie wohlwollend, zieht sie an. Reicht majestätisch die Hand zum Kuss, freudig erregt.

Sie
Nun geh, Konstanze! Bereite alles vor!

Lacht, dreht sich im Kreis mit ausgebreiteten Armen, verschwindet dabei in eine Badenische, übermütig.

Sie
Oh lala – so stürmisch? Hihihi! Lasst uns doch erst Eure Heimkehr gebührend feiern!

Singend macht sie ihre Morgentoilette. Plötzlich ahmt sie den Ruf einer Möwe nach und kommt wieder hervor – mit einem Fisch im Maul. Mit ausgebreiteten Armen fliegt sie durch den Raum, was den Vorteil hat, dass sich dabei kein Teppich wellt, und landet schließlich in der Kochnische, wo sie den Fisch in einen Bottich klatschen lässt. Als sie sich umdreht, hat sie ein Küchenmesser in der Hand.

Sie
Schurken, vermaledeite! Lasst augenblicklich ab von ihr! Euch werd ich lehren! Ha!

Gegen imaginäre Feinde fechtend

Sie
Kommt her, wenn ihr euch traut! Doch ihr seid wohl nicht manns genug, wie? Wie schmeckt dir das?

Nach wildem „Zweikampf“, als ob sie einem Feind die Klinge an die Gurgel hält

Sie
Na, was ist?

Sieht sich um

Sie
Wo sind sie jetzt, deine Kumpanen? Sieh nur, sie laufen um ihr Leben wie die Hasen und lassen dich im Stich!

Hämisch

Sie
Du zitterst ja! Hast du etwa Angst? Elender Feigling. Vergreift sich an einer Dame! Dafür wirst du bezahlen. Hör auf zu winseln!

Tötet den imaginären Feind, spuckt auf seine Leiche, schleudert das Messer in den Boden. Zur imaginären Geretteten:

Sie
Mademoiselle! Seid Ihr verletzt? ï¾–ffnet die Augen, Mademoiselle! Habt keine Angst! Riccardos Männer sind in die Flucht geschlagen.

Seitenblick auf „Getöteten“

Sie
Er bekam, was er verdiente. Alles ist gut. Ihr seid frei!

Hält „sie“ in den Armen

Sie
Ihr seid betörend schön. Ich danke Gott, Euch jetzt so nahe sein zu dürfen. Niemals zuvor habe ich gewagt, in Eure Augen zu sehen, mich darin zu verlieren. Doch sagt mir, was es ist, das Euch so traurig scheinen lässt? Als ob ein dunkler Schleier auf Eurem Antlitz ruht! Habt Vertrauen. Alles ist gut!

Will sie küssen, guckt aber plötzlich enttäuscht und lässt die Imaginäre fallen.
Sie senkt ihre Stimme.

Sie
Du willst es nicht anders.

Sie geht in Männerart zur Pritsche, ergreift die dort herumstehenden Stiefel, wirft sie lässig quer über den Boden in ein Eck. Männlich dröhnend

Sie
Ach, lass mich! Du könntest ruhig ein bisschen nett sein zu mir, findest du nicht? Ja, dankbar – nach allem, was ich für dich getan habe. Wenn ich dich nicht gefunden hätte, wärst du längst tot! Oder ein anderer hätte dich gefangen. Und verkauft! Oder wei゚gott! Was seid ihr denn schon wert heutzutage.

Sie verfällt in eine resignierte Untertanenhaltung, schleicht mit hängenden Schultern und dazupassendem Blick zu den Stiefeln und fängt an, sie hektisch zu putzen, bis sie ihr entgleiten. Wieder männlich:

Sie
Das ist doch nicht meine Schuld. Wir müssen doch alle schauen, wie wir zurechtkommen! Und so schlecht hast du’s hier wohl wirklich nicht. Immerhin bist du sicher. Da draußen ist die Hölle los – und du jammerst mir die Ohren voll, bloß weil du dich langweilst!

Sie steht in Männerart auf, haut sich rüber auf die Pritsche und raunzt von da aus durch den Raum

Sie
Komm mal her. Komm zu mir: komm, mein Kleines.

Eindringlich

Sie
Schau mich an. Du hast doch alles, was du brauchst. Das ist dein Zuhause! Keiner wird dich hier finden. Jetzt hör auf zu weinen! Vergiss es und mach mir was zu essen, okay?

Sie steht wieder auf, männlich, schickt sich an, in die Stiefel zu steigen

Sie
Ich war heute dort. Hab ihnen zwei Kinder verkauft. Wei゚e. Für die krieg ich sonst drei Wochenrationen. Mit einer haben sie mich abgespeist, mit einer! Langsam muss man ja hier schon froh sein, dass man was zu fressen hat! Aber du kennst mich ja. Ich hol mir schon meinen Teil!

Sie steht gestiefelt -geht in einem plötzlichen Einfall zum Regal, zieht ein Paar roter Stöckelschuhe hervor, hält sie sich hinter den Rücken.

Sie
Ich hab dir was mitgebracht! Willst du nicht sehen, was ich dir mitgebracht habe? Schau, was ich für dich mitgebracht habe! Freust du dich?

Stellt prall vor Besitzerstolz die Schuhe auf den Boden, präsentiert sie

Sie
Freust du dich? Freust du dich? Freust du dich?

Schiebt zuletzt die Schuhe mit einer entschiedenen Bewegung zur Pritsche.

Im Dunkel: ihr Schrei

Der Fänger

Er
Verfluchtes Mistvieh! Hör auf, so zu schreien.

Licht.
Unter größten Anstrengungen zieht ein Mann den (nicht mehr verhüllten) Käfig zur Bühne. Der Mann trägt Stiefel, seine Militärjacke ist weit offen. Er schwitzt. Im Käfig die riesige, schwarzgefiederte Kreatur. Die ins Eck gekauerte Frau springt auf, freudig

Sie
Ich dachte schon, dir wär etwas zugestoßen! Wo warst du nur so lange? Ich hab mir Sorgen gemacht.

Während sie mit ihm spricht, stellt sie verhohlen die Schuhe aufs Regal zurück.

Er
Hör auf zu schnattern. Hilf mir lieber.

Sie, neckisch

Sie
Oha – starker Mann

Er
Wenn dieses gottverdammte Ding nicht so schwer wäre!

Sie
Was ist das überhaupt?

Er
Nun fass doch mit an! Aber sei vorsichtig -er ist gefährlich.

Als sie versucht, mitanzupacken, hackt das Tier nach ihr und verletzt sie an der Hand. Sie schreit.

Er
Ich hab dich gewarnt.

Sie tritt gegen den Käfig.

Sie
Scheiße! Wozu schleppst du dieses Vieh hierher. Oh Gott – er hat mich ganz schön erwischt. Warum muss ich dir auch immer wieder…

Er hat inzwischen den Käfig an der Bühne positioniert und versucht sich um die Frau zu kümmern, die wehrt ihn unwirsch ab

Sie
Mach doch deinen Mist alleine!

Er
Zeig her.

Er wirft einen Blick auf die Wunde

Er
Warte mal.

Sie setzt sich, während er etwas holt, womit er ihre Wunde verarztet

Sie
Du warst lange fort. Ich hatte Angst. Ich dachte, du würdest nie mehr kommen. Sie hätten dich dort behalten, oder du wärst tot. Was würde dann mit mir? Lass mich nicht immer so lang allein. Das ist nicht gut für mich. Ich fang schon an…

Der Vogel echot mit knarrender Stimme ihren Rhythmus nach. Sie lacht, Blick auf den Käfig

Sie
Der ist sicher viel wert, was?

Er
Hm.

Sie
Schwer zu fangen.

Er
Hm.

Sie
Was meinst du, wieviel sie dir dafür geben?

Er
Hm.

Sie
Du solltest es ihnen nicht wieder so billig machen wie das letzte Mal.

Er
Hm.

Sie
Du setzt ja schließlich dein Leben aufs Spiel!

Er
Hm.

Sie
Wenn sie dir immer so beschissene Aufträge erteilen, dann sollten sie auch was springen lassen.

Er
Hm.

Sie
Wieviel willst du verlangen?

Er
Hm.

Sie
Sag schon! Was hast du vor? Du wirst ihn doch verkaufen, oder?

Er
Nein.

Sie
Was? Sag nicht -du willst ihn behalten?

Er
Doch.

Sie
Du bist verrückt! Was sollen wir denn mit dem Vogel? Es ist ohnehin kein Platz hier. Und womit willst du ihn denn füttern? Wir wissen doch selbst kaum, wovon wir leben sollen! Wie hast du dir das bloß vorgestellt? Der verschlingt doch eine halbe Kuh bei seiner Größe! Außerdem ist er hässlich.

Er
Halt den Mund. Dieses Tier ist ein… ein… ein… äh -eines der letzten seiner Art!

Sie
Ich mag ihn nicht. Er macht mir Angst.

Er geht zum Käfig

Er
Man erzählt die seltsamsten Dinge über seine Stimme. Es gibt kaum jemand, der ihn lebend zu sehen bekam -oder davon erzählen könnte! Und ich habe ihm eine Falle gestellt. Ich habe ihn gefangen. Besiegt! Jetzt wird er nur noch für mich singen. Keiner wird ihn hier finden! Und ich lasse ihn mir nicht wegnehmen. Von niemandem, verstehst du! Er gehört mir.

Sie
Aber wenn du ihn verkaufst -und sie dich ausbezahlen. Dann könnten wir hier weggehen und ein neues Leben…

Er
Sch! Siehst du, wie er mich ansieht! Als könnte er mich verstehen! -Na, was willst du mir sagen?

Sie
Ich dachte nur…

Er
Hör auf zu denken. Vergiss es -und mach mir was zu essen, okay?

Er setzt sich an den Tisch. Sie geht zur Kochnische, nimmt den Fisch aus dem Bottich, klatscht ihn auf ein Brett und stellt ihm das Ganze als Essen hin. Während er diese Mahlzeit eher angeekelt betrachtet, findet sie das noch herumliegende Messer, hebt es auf und geht damit langsam zum Käfig.

Sie
Wie wärï½´s mit Brathuhn?

Der Mann visualisiert ein Festmahl -und springt jäh auf, als der Vogel, ihrem Stich ausweichend, aufkreischt. Der Mann entwindet der Frau das Messer, zerrt sie an den Haaren vom Käfig weg – und wird zärtlich. Doch als er sie küssen will, wendet sie sich ab. Er lässt sie fallen.

Er
Du willst es nicht anders.

Er ab. Sie springt auf und ruft ihm nach

Sie
Geh nicht!

Licht aus.

Die Rivalen

Sie
Oh mein Prinz, macht schnell! Ihr wisst: ich warte!

Sie ist mit dem Vogel allein. Als sie in eine Art Singsang verfällt, gibt das Tier einen Zischlaut von sich.

Sie
Schau mich nicht so an! Ich hab keine Angst vor dir.

Nimmt das Messer.

Sie
Dir wird das Lachen noch vergehen. Keiner wird dich hier finden. Und in drei Tagen hat er dich satt. Wozu bist du denn auch nütze? Wahrscheinlich schmeckst du ihm nicht einmal. Aber wenn er Hunger kriegt, dann…

Der Vogel kreischt -sie erschrickt heftig, fängt sich wieder

Sie
Ja. Zuerst schneidet er dir den Kopf ab und reißt dir alle Federn aus. Und dann steckt er dich auf einen langen Spieß -das macht er mit allem, was ihm gehört.
Schau mich nicht so an. Ich helf dir ganz bestimmt nicht. Du kannst einem leid tun. Aber mir nicht! Geschieht dir schon recht. Warum bist du auch nicht oben geblieben, wo du hingehörst!
Kannst du das auch?

Sie „fliegt“. Der Vogel kreischt -sie erstarrt kurz, dann dreht er sich wieder nach vorn (von ihr weg).

Sie
Was bist du denn für ein Vogel, der nicht fliegen kann?!
Was bist du…

Der Vogel macht ein knarrendes Geräusch.

Sie
Man erzählt die seltsamsten Dinge über seine Stimme…

Sie kommt näher und lockt ihn mit Lauten. Er gibt seine von sich. Das Spiel schaukelt sich hoch. Als der Vogel plötzlich schrill kreischt, erwidert sie spontan -und hält sich erschrocken die Ohren zu. Dann eilt sie nach hinten, holt das Radio, dreht es an, hält es dem Vogel hin, umkreist den Käfig damit. Das Tier wird unruhig, wild, panisch, kreischt und flattert.

Jähe Stille, ganz kurz dunkel.

Die roten Schuhe

Der Mann ist zurück. Reflexartig hat sie das Radio abgeschaltet. Er geht langsam auf sie zu, verhängt ohne hinzusehen den Käfig mit einem Tuch (wobei der immer noch kreischende Vogel schlagartig verstummt), nimmt ihr das Radio ab und stellt es definitiv an seinen alten Platz zurück.

Er
Na, los!

Sie, total gebrochen, geistesabwesend in einen Singsang verfallend, fängt an in Richtung Regal zu kriechen an dem sie sich kraftlos aufrichtet. Sie nimmt die roten Schuhe, zieht sie an und spult eine puppenhaft eine vollkommen freudlose Verführungsshow ab.

Sie
(Singsang):
Sie hatte leuchtend rote Haare
Armbänder wie ein Hardcore-Punk
Sie fuhr den ganzen Weg nach Stinkdorf
In einem alten Russentank…

Als sie erschien -es war um Mittag
Schmiss Pfarrer Schmidt sein Tonband an
Doch übertönt wurden die Glocken
Vom Kirchturm selbst, der barst und niedersank

Heimkehr, Heimkehr…
Heimkehr nach all den Jahren…

Burschen und Männer an den Tischen
Der miesen Schenke sprangen auf
Bierkrüge rollten, Fenster klirrten
Mit der Kanone hielt sie drauf,
Mit der Kanone hielt sie drauf.

Heimkehr, Heimkehr…
Heimkehr nach all den Jahren…

Und übrig blieben nur die Hühner
Verschreckt der Hahn auf seinem Mist
Gleitketten rieben Mus aus Leichen
Zu Staub zerscherbten Kreuz und Christ,
Zu Staub…

Heimkehr, Heimkehr…
Heimkehr nach all den Jahren…

Am Abend unterwegs ein Wanderer:
„Wo bitte geht’s nach Stinkdorf lang?“
Sie zuckte lächelnd mit den Schultern:
„…Ort ist mir leider nicht bekannt.“

Sie hatte Ruß auf Haut und Haaren
Und einen Blick, der Feuer sang
Sie nahm die Strasse Richtung Hohlstadt
In ihrem alten Russentank…

Licht aus.

Die Nacht

Allmählich Licht: Er schläft auf dem Lager, sie wäscht sich im Bad. In ihr Geplansche mischt sich leises Schluchzen. In jämmerlichem Zustand erscheint sie. Ihre Bewegungen sind apathisch-katatonisch. Da゚ sie das Messer in der schlaffen Hand hält, bemerkt sie gar nicht.

Sie
Wachen Sie auf, Majestät. Sie haben geträumt.

Erneutes Schluchzen

Sie
Beruhigen Sie sich. Alles ist gut. -Keiner wird dich hier finden.

Als ob der Schlafende zu ihr gesprochen hätte, weicht sie von ihm zurück. Ihr Blick fällt auf die Schuhe.

Sie
Kukuruku, kukuruku -Blut ist im Schuh.

Dabei umkreist sie die Schuhe.

Sie
Ich will nach Hause. Mein Bauch tut weh. Ich mag nicht mehr spielen. Mama. Wart auf mich.

Dann, in einem plötzlichen Impuls (aber weiterhin in katatonischer Haltung):

Sie
Kommt her, wenn ihr euch traut. Sieh nur, sie laufen um ihr Leben wie die Hasen und lassen dich im Stich!
Elender Feigling! Vergreift sich an einer Dame! Dafür wirst du bezahlen. Du zitterst ja! Hast du etwa Angst?

Sie zittert leicht. Das Messer fällt ihr aus der Hand. Sie bemerkt die herumliegende Puppe, hebt sie auf, streichelt sie gönnerhaft.

Sie
Du jämmerliches Ding! Du würdest doch keinen Tag überleben da drau゚en. Also halt schön still. Und mach mir was zu essen, okay?

Bei den letzten Worten rutscht ihr die Puppe weg. In verspäteter Reaktion irrt ihr unsteter Blick über den Boden -und findet einen der Schuhe. Den nimmt sie und schlägt in einer langsamen Verzweiflung auf die Puppe ein. Dabei bricht dem Schuh der Absatz ab.
Der Mann brummt im Schlaf. Ihr Blick wechselt zwischen dem kaputten Schuh und dem schlafenden Mann hin und her. Vergeblich versucht sie den Absatz zurück an den Schuh zu bringen.

Sie
Er wird mich umbringen…! -Er wird mich umbringen…!

Schließlich arrangiert sie beide Schuhe aufs Regal, als wären sie noch heil.

Sie
Er wird mich umbringen…!

Plötzlich ertönt aus dem zugehängten Käfig die Stimme des Vogels.

Es
Heimkehr.

Fassungslos wendet sie ihren Blick zum Käfig – stürzt hin und reißt das Tuch weg.

Der Vogel hat das Maul aufgerissen und gibt ein knarrendes, vollkommen tierisches Geräusch von sich.

Licht aus.

Die Verbündeten

Licht an.
Die Frau steht beim Käfig und streckt sehr langsam ihre Hand hinein, berührt den Vogel vorsichtig, zärtlich. Der Vogel lässt sie gewähren, reagiert sogar sanft. Mit der Frau geht eine Veränderung vor. Ihr Rücken wird gerade, ihr Blick klar. Währenddessen erwacht der Mann, ist nur kurz irritiert, beobachtet dann die Zärtlichkeit -und interpretiert er die Situation auf seine Art:

Er
Na, habt ihr euch doch angefreundet.

Sie zuckt kurz zusammen und macht sich hektisch ans Aufräumen. Er schaut ihr nach mit leicht verwundertem Blick, wendet sich dann aber seinerseits dem Vogel zu. Blickspiel: Der Vogel meidet den Blick des Mannes, schaut ihn aber an, wenn er wegguckt. Der Mann macht einen behutsamen Annäherungsversuch, den der Vogel pariert, indem er sich dreht, bis er dem Mann den Rücken zukehrt. Der Mann schleicht um den Käfig, bis er dem Vogel wieder in die Augen sieht. Beschwörend

Er
Sing!

Der Vogel reagiert nicht.

Er
Sing!

Der Vogel bleibt stumm. Die Frau findet inzwischen das Messer wieder und nimmt es zu sich. Sie beobachtet die beiden aus sicherer Distanz.

Er
Sing!

Der Vogel knarzt.

Sie
Reiz ihn nicht!

Er
Er gehört mir. Schau, was ich für dich habe!

Der Mann holt den Fisch und bietet ihn dem Vogel an. Der öffnet das Maul, hat aber nur gegähnt. Der Mann hält ihm den Fisch näher hin. Der Vogel gibt einen mysteriösen Laut von sich, den der Mann als Vorräuspern zum Gesang missdeutet. Der Vogel versucht durch Kopfverrenkungen dem Fisch auszuweichen. Der Mann, in Vorfreude dicht über den Käfig gebeugt, folgt aufgeregt lauschend den Kopfbewegungen des Vogels, der einen leisen tiefen Laut von sich gibt, welcher langsam anschwillt.
Ein scharfer Vogelschrei geht über in den Schmerzensschrei des Mannes: Der Vogel hat das Bein des Mannes in der Klaue (die Hose ist aufgerissen, die Haut zeigt blutige Striemen). Erst nach einer Weile gelingt es dem Mann, sich loszureißen. Er fällt nach hinten und hält sich stöhnend die Wunde.

Er
Hilf mir doch!

Die Frau geht mit dem Messer auf den Mann zu, hält es ihm an die Kehle. Einen Moment zögert sie. Er bemerkt sie erst jetzt, schlägt ihr das Messer aus der Hand -und rappelt er sich auf.

Er
Na? Na, was? -Schlampe!

Die Frau bleibt ruhig stehen. Er knallt ihr die roten Schuhe hin. Dass einer bereits kaputt ist, merkt er gar nicht. Sie schaut den Mann ungerührt an -und versetzt den Schuhen einen scharfen Tritt.

Er
Aha? Ein neues Spiel? Du willst dich also mit mir anlegen? Und dann?
Keinen Tag lang würdest du überleben da draußen.

Sie weicht nicht zurück. Ihr Blick bleibt so ruhig wie ihre Haltung.

Er
Aber bitte, wenn du willst -dann geh! Na geh doch! Geh!

Sie reagiert nicht.
Er ab

Licht aus.

Der Kuss

Licht.
Die Frau steht immer noch da. In einer sehr langsamen Bewegung mit dem ganzen Körper streift ihr Blick durch ihren Lebensraum. Dabei geht sie auf den Käfig zu. Ruhig, gelassen und vollkommen souverän löst sie den Riegel der Käfigtür. Die Frau geht beiseite.
Vorsichtig kriecht der Vogel aus seinem Gefängnis heraus, stakst gebückt auf die Bühne.
Dort richtet er sich langsam zu seiner vollen Gestalt auf und entfaltet die Flügel. Der Vogel ist sehr groß.
Aufrecht, ruhig, entschieden, langsam und vollkommen gelöst geht die Frau in seine Umarmung, in der sie völlig verschwindet.
Er beugt sich sanft nieder, entlässt aus seinen Schwingen den toten Körper der Frau und richtet sich wieder auf.

Die Wildnis

Der Mann kommt zurück (den Vogel sieht er gar nicht), hält entsetzt inne -stürzt zur Frau hin, umklammert die Leiche in jähem Schmerz. Der Vogel steigt über das Paar hinweg, stößt seinen Ruf aus und stakst mit ausgebreiteten Flügeln von dannen.

Während sich der Mann trauernd über die Frau kauert, erklettert der Vogel die Balustrade. Von dort fängt er an zu sprechen.

Es
Du fragtest nach meinem Gesang, Fremder?
In jeder klaren Nacht kannst du mein Gefieder glitzern sehen. Auch deine Milchstraße gehört ins Muster meiner Schwingen.
Ich liebe Spiralen!
Meine Stimme willst du hören?

Ich bin das Geräusch,
mit dem die Sonne ins Meer taucht jeden Abend
Ich bin das eine Blatt,
das die Winde stehengelassen haben
Ich bin das trommelnde Nass,
das die Krume aufweckt
Und die Flamme am Himmel,
die sich in Zacken zur Erde streckt

Ich bin das Knarzen der Bäume
beim Altern der Welt
Und das Seufzen des Felsens,
wenn Schnee drauffällt
Kennst du den klirrenden Frost,
das Versteinern der Haut?
Und auch den Sturzbach aus den Augen
-wenn das Eis einfach taut?

Was willst du denn hören?
Hast du je zugehört?
Hat je eine Stille dir die Gedanken gestört?
Sieh her. Ich zeig dir,
wer und was dir gehört

Der Wölfin Gruß
nachts an das bleiche Gesicht
Das Hämmern des Schnabels,
der die Eischale bricht
Das pumpende Weltall,
das Flüstern der Flut
Das Lachen der Schwerkraft
und das Singen im Blut

Ich bin das Stampfen der Hufe,
wenn Horn an Horn klackt
Der Schrei der Blüte,
die ein Sonnenstrahl packt
Die steigende Hoffnung,
des Traumes tanzender Ton
Der Rost am Unterboden der Zivilisation
Warte! Ich komme schon

Ich bin das warnende Fiepen,
wenn der Bussard pfeift
Das Knistern des Kleides,
das die Schlange abstreift
Das rettende Loch
und das verbotene Wort
Die richtige Zeit
und der nötige Ort

Ich bin das „Wild-“ vor der „-sau“,
komm als Kalb aus der Kuh
Und ich beginne zu beben,
wenn die Liebe sagt: Du

Komm her
Wir sind soweit.
Die Hand, die die Nebel teilt,
führt dich heim.
Gib endlich nach.
Lass los.
Es ist Zeit.

Ende

Text © Michi Schuberth & Duke Meyer 1994

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