Eibensang

Gedanken zum Fest der Sinnenlust

Heute ist Beltane – das (zumindest von mir so interpretierte) Fest der Liebeslust. Es ist eine gute Weile her, dass ich betreffende Parties (die ich absichtlich so tituliere) mit entsprechenden Ansprüchen belegte – und seien sie noch so spielerischer Natur gewesen. Ich bin ja erst im reiferen Alter Heide geworden – als mir bestimmte gesellschaftliche Spurrillen, also zwischenmenschliche Verhaltensweisen, kulturbedingt eingefleischte, längst klar geworden waren: wenigstens mit dem Verstand… Obgleich mein Bauch manches nie ganz begriff. Noch heute träume ich von einer besseren Welt, und vielem, was sie meines Erachtens besser macht. Work in progress – ich bleibe dran.

Ich könnte von einer Enttäuschung erzählen, die ich mir unbedacht selbst einbrockte und die mich schmerzt. War vor Wochen drauf und dran, das hier zu tun – wollte es aber nicht noch verschlimmern, was dadurch leicht hätte passieren können. Der Anspruch, am Leben zu lernen, führt leider nicht zwangsläufig zu seiner Einlösung. Auch nicht mit reichhaltiger Erfahrung. In manchen Bereichen tu ich mich nach wie vor hart – Menschenkenntnis (genauer: die Einschätzung sozialer Auswirkungen im Wechselspiel mit meinen Wünschen und Bestrebungen) gehört dazu. Das Schwimmen gegen den Strom ist mir dermaßen zur zweiten Natur geworden, dass ich zuweilen übersehe, was ich anderen damit zumute: wenn die Pferde mit mir durchgehen. Früher hätte ich gejammert: Ich dachte, wir reiten gemeinsam! Nein, ich weiß längst: Das Treffen an ein- und demselben Feuer muss keinen gemeinsamen Aufbruch zur Folge haben – schon gar nicht in dieselbe Richtung, oder gar mit gleichartiger Vehemenz. Es zählen nur immer die Momente: die heilenden und heiligen.

Irgendwas mache ich offenbar aber auch richtig (nicht alles. Aber etwas). Ende letzten Jahres war ich ziemlich am Ende (nicht mit allem. Aber es reichte). Dann kamen die Rauhnächte – die ersten seit Jahren, die frei von Trauer waren und mich zurück zu mir selbst brachten: Hel sei Dank. Ich wagte eine Entscheidung, die ich nur in diesem besonderen Zustand treffen konnte – denn ich hatte einige beharrliche Ansichten zu überwinden, die sich dabei jedoch als langjährig gewachsener Dünkel entpuppten. Erkannt, getan, verändert. Wer wollte hier noch behaupten, ich oute mein Innerstes? Nichts Konkretes verrate ich der Tratschgemeinde, ha! Ich rede über Themen und nehme das eigene Leben nur als Beispiel dafür. Heraus kommt Philosophisches. Das ist mir wichtig. Vielleicht schreibe ich irgendwann auch einmal auf, wie und als was ich meine Großen empfinde – abstrakt weit weg von der Edda, wo ich wesentliche Teile des ursprünglichen Impulses her habe: aber umso sinnlicher und meinen realen Bedürfnissen angemessener als jede alte literarische Vorgabe, mit deren historischem Ursprung mich nicht viel verbinden kann. Ich grabe tiefer, mein Bauch tut es, mein Instinkt – oder die Großen selbst.

Es geht mir gut, weit besser als vor Monden: allen Unwägbarkeiten und unsicheren Weiterentwicklungen zum Trotz. Hel und Loki grinse ich zu dabei. Und gemäß der Umstände ist mir heute gar nicht so nach Liebesschwelgerei. Hey, gebt mir die Gelegenheit – ich bin der erste, der sie wahrnimmt: jede, die sich gut anfühlt! Und dazu endlich stehen zu können, mit allen Konsequenzen, zähle ich zu meinen dreieinhalb Lebensleistungen. Es hat mich viel gekostet und wird auch künftig nicht billiger (und damit meine ich ausschließlich das Herz, die Seele, das Gemüt – und höchstens noch die Nerven. Mein Portemonnaie ist nicht der Rede wert – und hätte es auch die Deckung reich gefüllter Konten) – aber in meinem Alter, frozzle ich ganz frech entspannt, fürchtet eins nicht mehr jeden Scheiß. Ich einstiger Profi-Angsthase bin ziemlich angstfrei geworden – gerade in den letzten fünf, sechs Jahren. Ich kenne das Leben – Teile davon besser, als ich je kennenlernen wollte. Ich war beim Zahnarzt. Und ich war bei Hel. Das ist nicht dasselbe. Hie wie dort ging es nicht um Kleinigkeiten. Schaffe ich alles? Ja. Natürlich nur mit Hilfe. Eine meiner besten Ideen war, als einst ausgerissener Grashalm an die Existenz von Wiesen zu glauben. Wisst ihr, was schön ist? Wenn sich Nöte in Triumphe verwandeln. Ich durfte es erleben. Wieder und wieder. Wobei mir noch notorisch schwerfiel, das anzuerkennen. Aber die Großen hatten einen Auftrag für mich. Vielleicht waren sie deshalb so geduldig mit mir.

Diesen April traf ich zwei liebenswerte Menschen. Den einen kannte ich schon, die andere nicht. Ihm durfte ich bei einem spontanen, aber anspruchsvollen Ritual beistehen, ihr lauschen. Weit entfernt von meiner Wohnstatt, hoch im Norden, wagen die beiden zusammen mit anderen heute oder dieser Tage etwas (wie mir scheint) Anspruchsvolles, bei dem ich liebend gern dabei gewesen wäre. Wenn es auch nur halb so gut gelingt wie gedacht, vermisse ich damit das beste Beltane-Ereignis seit Jahrzehnten. Wehmütig a bisserl (weil mir die Pferdephantasie durchgeht: was ihre Natur ist), aber neidlos: Kommt Zeit, kommt Wiedersehen – wann, wo und wie auch immer. Ich hänge, denke ich, ganz gut im Wyrd gerade: Soeben zeigte sich mir ein Knoten des Weltnetzes. Greife ich zu? Klar. Bin mittlerweile alt genug, einen Bahnhof zu erkennen – und den richtigen Zug zu nehmen. Mit dem Wyrd ist es wie mit der Deutschen Bahn, weniger schäbig natürlich, nur noch unübersichtlicher: Es gibt Verspätungen, „Verzögerungen im Betriebsablauf“, Ausfälle – und oft erscheinen die Preise gesalzen. Aber am Schluss kommst du an. Wenn du dranbleibst. Das System kann nichts für deine persönliche Routenplanung. Und im Großen und Ganzen funktioniert’s. Beim Wyrd bergen ja auch die gefühlten Ausfälle nochmal ganz sinnvolle Lektionen: in dem Maß, wie du sie als solche zu nehmen bereit bist. Und letztlich ist der Service besser.

Mit einer lieben Vertrauten kam ich heute – Beltane! – ganz unversehens in ein Gespräch übers Sterben, über den Tod. Mir kam die Bemerkung: Der Umstand, dass wir nichts mehr mit dem Tod zu tun haben wollen, hindere uns, das Leben zu begreifen. Ich meine, das schon öfter gesagt zu haben. Aber vielleicht sollte ich es nochmal näher ausführen. Ich weiß, dass in meinem (naiven, absichtsvollen) Traum vom „Stammesleben“ egal wäre, ob ich lebe oder tot bin: Ich wäre und bliebe auf jeden Fall Teil der Gemeinschaft. Da wo die Ahnen nicht nur nah, sondern ganz selbstverständlich präsent sind (anders als die Lebenden, aber genauso intensiv), wäre ich einer von ihnen – egal, ob ich Kinder habe oder nicht. In unserer heutigen Gesellschaft ist eine solche Selbstverständlichkeit nicht herstellbar. Umso wertvoller ist mir der Traum: als ein Leitbild dessen, was sein sollte. Es verändert die Realität. Denn es beeinflusst mein Fühlen und, auf Dauer, mein Tun. In dem Maß, wie mich der Austausch mit anderen solcher Werte oder ihrer Möglichkeiten gewisser macht, die Ansicht festigt und bereichert. Wir feiern Feste, dessen bin ich mir sicher, nur des Todes wegen: um mit der eigenen individuellen Sterblichkeit klarzukommen. Die Vermehrung durch Nachkommenschaft ist der Trick des Lebens, Unsterblichkeit zu erlangen. So überdauert auch das Bewusstsein ganze Generationen, obwohl wir Einzelnen alle sterben. Es ist auch angesichts aller historischer Pervertierungen – Nationalismus, Rassismus etc. – schwer, sich dem Gedanken, zu einem Kollektiv zu gehören, mit guten Gefühlen zu nähern. Mein höchst individuelles Leben, dessen Qualität UND Identität in hohem Maße von historisch sehr jungen, sehr priviligierten Freiheiten abhängt (die in der Geschichte geradezu einzigartig sind – was nicht heißt, dass sie nicht noch verbesserbar, erweiterbar, entwicklungsbedürftig wären), lässt höhere Schlüsse nur mit Mühe zu. Aber die mach ich mir gerne – und bewusst.

Ich habe mehr seelische Narben als körperliche. Je mehr ich beide zu tanzen lerne, desto schöner werde ich. Es war keine Kunst, in meinen jungen Jahren fast nackt aufzutreten: innerlich wie äußerlich. Aber wie gebremst fand das statt! Ich meinte immer, mich hielten andere auf. In Wahrheit war ich Don Quijote – und die Windmühlen waren meine eigenen. Wunderlicher Nebeneffekt: Manche meinten tatsächlich, ich erschlüge Riesen – oder griffe die zumindest an! Inzwischen lerne ich – zäh, aber zunehmend – zu grinsen über die eigene traurige Gestalt. Tut sie meiner „Ritterlichkeit“ Abbruch? Hey: Ich meine, die Aspekte gehören zusammen – für eine gute Geschichte, zumindest.

Und jenseits meiner ollen Windmühlen gibt es tatsächlich „Riesen“: Verhältnisse und Probleme, die dir und mir to-tal über sind – oder eben so erscheinen. Erklecklich viele Scheinriesen darunter: solche, die schrumpfen in dem Maß, wie du dich ihnen zu nähern wagst. Wage es! So weit, so verblüffend. Aber es bleiben mehr als genug echte stehen: die – scheinbar – Unüberwindbaren. Die, die es „immer gegeben“ hat, nach Ansicht der Weisen zumindest – deren Weisheit aber allzuoft auf der Resignation ihres eigenen Scheiterns beruht. In der Hinsicht bin ich unverzeihbar jung geblieben: Wollen wir doch erstmal sehen! Liebling Freyjas nenne ich mich seit Jahrzehnten – aber ist sie nicht sogar die Sonne? Und feierte die Große am Himmel nicht Hochzeit mit der Blutpumpe meines vergänglichen, aber unentwegt hungrigen Leibes? Bin ich nicht germanischer Sonnentänzer? Schau meine Narben!

Ich höre nicht auf, ich bleibe dabei, ich habe alle meine Lebensalter und -zeiten zur Verfügung, unmittelbar, die gewesenen wie die noch kommenden, und sie bündeln im Jetzt, Hier und Heute: Here I go, here I come (hier gehe ich, hier komme ich)! Die singenden Priesterinnen der Hippies öffneten einst mein Herz, die nicht nur prä-potenten Rebellen des Punk wiesen mir den Ausweg aus der Traditionsverengung: Werde du selbst! Was ich – wie so ziemlich alles (denn ich verfüge über keinerlei Humor, von dem ich wüsste. Ihr dürft lachen darüber – aber ich bezahle euch nicht) – ernst nahm. Jetzt bin ich Elder Statesman eines Stammes, der nur als Traum existiert. Obwohl er eine reelle Entsprechung hat. Er ist mir das, was im „Herrn der Ringe“ Aragorns „grüne Armee“ war: die auch nicht wirklich war – aber Wirkung hatte. Und genau so steige ich aus meinem gekaperten Piratenboot der Übermacht (der Verhältnisse) entgegen.

Heya, guten Morgen. Guten Abend, Abendland. Ich habe dir, ich habe euch was mitgebracht. Mein Schwert, meine Axt, meine Zunge (meine einzige Waffe: die fürchterlichste der Welt. Jede ihrer Diktaturen fürchtet sie mehr als alles andere – zu Recht), meine Treue. Meinen Speer! Vierundzwanzig Runen und ungefähr genauso viele Freunde und noch mehr Verbündete stärken mein Rückgrat. Ich nenne meine Ahnen einzeln beim Namen: auch wenn nur wenige davon meine leiblichen sind. Wen schert das Leibliche? Mich, aber nicht nur, sondern nur auch. Und ich kämpfe wieder: nackt. Die Narben schmerzen. Aber ich weiß, wofür.

Ein gesegnetes Fest der Sinnenlust wünsche ich euch. Ich bin in Gedanken bei euch, und wenn ihr einen Kuss für mich übrig habt auch außerhalb: Vorsicht, ich könnte ihn erwidern. Es geht nicht immer gut aus. Aber manchmal schon. Ich bete dafür, ich arbeite daran. Und ja und nochmal: Ich weiß, wofür.

2 Reaktionen zu “Gedanken zum Fest der Sinnenlust”

  1. MartinM

    Hi Duke,

    du sprichst mir – mal wieder – aus der Seele. Und du machst mich neugierig.

    Mai sei!

  2. Anke

    Hallo Duke! Ja…Beltane… MEIN ruhigstes BELTANE- Fest in meinem Leben- bin i doch TIEF eingeschlafen… Und heute, wenn i Deine Gedanken so lese, spür i all des, das Auf & Ab, das VielSame & Einsame, das ewige Pulsieren des Ying & Yang, Trauer & Freude, Leben & Tod & Alles dazwischen….. und immer nur bleibt: Genieße den Moment …heilsam & heilig. Duke. DU bist GENAU richtig und wunderschöne Worte zu Beltane sinds… so schön, Dein persönlichstes zu spüren- deine empfindsame, zarte Seele.. Danke…so schön! Prachtvoll sind wir „Ge-reiften“ und lustvoll a no… I werf dir a Kuss zu… über die Sterne… Möge der Mai dich verzaubern … Musik & (Lebens-)Tanz dich weiterhin begleiten , mögest du (Lebens-)lustvoll zappeln und Dir LebenswunderDinge um die Nase wehen lassen. Beltanegrüße, vollmondnah… Du alte Seele, junger Freund… Es grüßt, die Dorfhexe aus dem Süden

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